34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
wedelte mit ihrem linken Arm hin und her, an dem nun kein Tropf mehr hing: »Siehst du, er ist ab. Wenn das kein gutes Zeichen ist! Schön, dass du kommst. Ich war mir nicht so sicher. Es ist so langweilig hier, so irre langweilig. Die beiden alten Tanten«, sie deutete mit dem Kopf in die Richtung der beiden Betten, »hat auch noch niemand besucht. Ist echt toll, dass du mich wenigstens besuchst.«
Natalia strahlte Ella an, und Ella strahlte zurück. So sehnlich war sie noch nie von einer Frau erwartet worden.
»Wie geht es deinem Kopf?«, fragte Ella.
»Schon viel besser. Die haben super Pillen hier«, sagte Natalia lachend, »wirklich super Pillen.«
Ella lachte und schaute sie an. Die Blutergüsse in ihrem Gesicht waren nun tiefblau, ihre Lippen waren nicht mehr ganz so monströs, aber immer noch wächsern und dick. Natalia lüftete ihre Decke, ihr Bein war bis zur Hüfte in Gips.
»Die Ärzte sagen, es wird wieder. Das Bein, meine ich. Was mit den Lippen ist, hab ich mich noch nicht getraut zu fragen. Die denken sonst gleich, ich bin so eine Tusse. Bisher hab ich sie nur nach dem Radfahren gefragt, und das wird dauern.« Natalia schluckte.
»Ist das dein einziger Job?«, fragte Ella.
Natalia antwortete nicht. Stattdessen rappelte sie sich auf und fragte: »Hast du mir eine Geschichte mitgebracht?«
»Ja«, sagte Ella.
»Und wer bin ich?«
»Eine Abenteurerin.«
»Ich eine Abenteurerin?«, fragte Natalia.
Ella schwieg eine Weile. Jetzt war es an der Zeit, Natalia nach dem Mann mit dem weißen Haar zu fragen.
»Ich wollte dich noch was fragen«, sagte Ella und schaute dabei aus dem Fenster. »Warum hast du mich eigentlich gestern nach einem Mann mit weißem Haar gefragt? Wie kamst du eigentlich darauf, dass er am Unfallort gewesen sein sollte? Bist du wegen ihm in den Lastwagen gekracht?«
Natalia wendete sich ab und flüsterte: »Keine Ahnung, ich weiß nicht mehr, wie es passiert ist.«
»Aber kennst du diesen Mann denn?«
»Kennen? Das kann man nicht sagen, aber…«
»Aber?«
Natalia schüttelte den Kopf, richtete sich, so weit es ging, auf und sagte dann voller Resignation: »Das willst du alles nicht wissen. Ich bin da in was reingeraten, das ich nicht mehr im Griff habe, null im Griff. Aber das willst du alles nicht wissen, glaub mir. Erzähl mir lieber was. Bitte, Ella, echt, das hilft. Ich brauche jemanden, der mir irgendeine Idee gibt, was das hier alles bedeutet. Mein Leben ist das totale Chaos, ich geb mir echt Mühe, aber sosehr ich es auch versuche, es ergibt einfach keinen Sinn.«
Ella schwieg. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Eine Abenteurerin?«, fragte Natalia und schaute Ella flehend an.
Was war man für ein Mensch, wenn man sich selbst auf sein Leben keinen Reim machen konnte? Vielleicht war Natalia das Gegenstück zu ihrer Schwester: Beide nahmen das Leben so, wie es kam, nur dass sich bei Natalia nichts und bei ihrer Schwester alles von selbst reimte. Beides war grauenhaft.
»Ella?«, fragte Natalia leise. »Du hast doch gesagt, ich bin heute eine Abenteurerin.«
Ella rückte den Stuhl von der Ecke des Zimmers ein wenig näher ans Bett, setzte sich, stand dann noch einmal auf, kippte das Fenster, setzte sich erneut, holte Luft und fragte: »Eins muss ich doch noch wissen, bevor ich mit der Geschichte anfange: Bist du in Gefahr?«
Natalia wandte ihren Kopf ab: »Ella! Lass es! Lass es, bitte.«
Ella schwieg, und Natalia sagte leise mit abgewandtem Kopf: »Ich weiß es nicht, vielleicht… Ich dachte, es geht nur um Kohle, aber wenn’s um Kohle geht, dann geht’s ja nie nur um Kohle. Das hätte ich vorher wissen müssen. Und jetzt…«, sie brach ab, »lass es. Ich kenn dich ja gar nicht. Vielleicht ist dein Vater Polizist oder so was.«
»Kann sein«, sagte Ella, »kann sein, dass mein Vater Polizist ist, aber eher unwahrscheinlich. Ich kenne meinen Vater ja nicht, aber so wie ich meine Mutter einschätze… eher Opernsänger als Polizist.«
Natalia schloss die Augen und atmete aus.
»Dafür war dein Vater ein großer Erfinder. Willst du was von ihm hören?«, fuhr Ella fort.
»Ja, bitte, erzähl mir was.«
»Er hieß Earl Stanhope, und du bist seine älteste und natürlich auch seine Lieblingstochter. Der alte Earl erfand das Dampfschiff und die erste Rechenmaschine. Geboren wurdest du 1776. Du bist aber nicht nur die Lieblingstochter eines großen Erfinders, sondern auch die Nichte von Pitt dem Jüngeren, dem zweifachen Premierminister von
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