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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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nach der anderen. Himbeertorten, Sachertorten, Biskuitrollen. Meist bröselte der Teig, floss die Sahne, fiel das Biskuit in sich zusammen, aber Ella und ihre Schwester aßen sie trotzdem und lobten ihren Geschmack. Nach der vierten oder fünften Torte ging es der Mutter dann besser.
    Ungefähr in der Zeit, als Jasmin ins Gymnasium kam, begann ihre Mutter zu welken und zu trinken. Die Kühlschrankladungen blieben aus, und die Schmetterlinge kamen kaum noch zum Einsatz. Das Trinken schlug natürlich nicht wie ein Blitz in ein bislang störungsfreies Leben ein, es brachte die Haltlosigkeit ihrer Mutter nur noch weiter auf den Punkt. Sie trank mittags ein Glas Sekt, dann nachmittags noch eins und dann so weiter, bis die zweite Flasche leer war. Sie wurde niemals aggressiv, der Alkohol verstärkte eher ihre kindliche Seite. Und so kugelten Ella und ihre Mutter sich manchmal vor Lachen auf dem Bett herum, bis sie angezogen einschliefen. Jasmin machte da nie mit, aber manchmal ging sie an ihnen vorüber und musste doch lachen, wenn die Mutter Grimassen schnitt und sich rückwärts fallen ließ; an anderen Tagen mussten die Töchter den Kopf der Mutter halten, während sie in die Kloschüssel kotzte.
    Jasmin machte ein Abitur, das gut genug für ein Medizinstudium gewesen wäre, aber sie wollte so schnell wie möglich eigenes Geld und eine handfeste Arbeit, wo sie auch halbtags beschäftigt werden konnte, sobald sie Kinder hatte. Jasmin trieb Ella zu schulischen Höchstleistungen an, lernte jeden Nachmittag mit ihr und war überzeugt davon, dass Ella, mit dem ererbten Sprachtalent der Mutter, ihrer weltfremden Verdrehtheit und ihrer für sie unbegreiflichen Leselust, nur eins werden konnte, nämlich Literaturprofessorin.
    Ihre Schwester blieb zu Hause wohnen, bis Ella ihr Abitur zwei Jahre später in der Tasche hatte, dann organisierte sie zuerst für Ella und sich eine gemeinsame Wohnung in der Nähe der Uni, dann für Ella einen Studienplatz und zuletzt für sich einen Mann, der keine Flausen im Kopf hatte und anstandslos mit ihr eine Familie gründen wollte. Als sie mit Leo zusammenzog, war sie im fünften Monat schwanger und hatte sich bereits selbständig gemacht.
    Anfangs war sie mit Leo weicher, als Ella sie je erlebt hatte. Sie alberte mit ihm herum und schien sich das erste Mal in ihrem Leben nicht für die ganze Welt verantwortlich zu fühlen. Bei Jasmins Hochzeit konnte Ella nicht aufhören zu weinen. Sie weinte im Standesamt, sie weinte in der Kirche, sie weinte beim Abendessen und sie weinte noch, als sie sich im Morgengrauen verabschiedete und allein nach Hause ging.
    Ella behielt die Wohnung, vermietete das andere Zimmer an eine Kommilitonin und wurde noch eine ganze Weile von ihrer Schwester versorgt. Irgendwann wurde es Ella zu viel und sie eröffnete Jasmin, dass sie zwar vielleicht das Sprachtalent der Mutter geerbt hatte, aber trotzdem ziemlich gut allein zurechtkam. Sie hatte große Angst, Jasmin würde diese Aussage als Zurückweisung empfinden, als Unverschämtheit, aber Jasmin schien schlichtweg erleichtert, als hätte sie in ihrem Leben nicht mehr damit gerechnet, Ella endlich in die Welt entlassen zu können. Da war Jasmin schon mit ihrem zweiten Kind schwanger.
    Ihrer Mutter gestand Jasmin feste Besuchszeiten bei den Enkelkindern zu, jeden ersten Montagnachmittag im Monat, und immer gab es Blechkuchen und Kaffee. Jasmin lud Ella dazu ein, und Ella verpasste kein einziges Treffen, auch wenn sie kaum ein Wort mit ihrer Mutter sprach. Stattdessen spielte sie mit den Kindern und versuchte, dem Blick der Mutter auszuweichen. Nur so ging es. Ihre Mutter brachte Blumen und Geschenke mit und stand alle fünf Minuten auf, um sich woanders wieder hinzusetzen. »Schön habt ihr es hier«, sagte ihre Mutter jedes Mal, als hätte sie den Satz auswendig gelernt.
    Seit Jasmin Kinder hatte, behandelte sie ihre Mutter, als müsste sie gleichermaßen besänftigt und diszipliniert werden. Nur einmal wurde Jasmin ausfällig, und dabei blitzte es in ihren Augen. Das war, als ihre Mutter Zopfspangen mit kleinen, glitzernden Schmetterlingen mitgebracht hatte. »Wag es nicht!«, hatte Jasmin geschrien und ihr die Schmetterlinge aus der Hand gerissen. »Du wirst meine Kinder da nicht mit reinziehen! Niemals wirst du sie da mit reinziehen!«
    Ihre Mutter schien keine Ahnung zu haben, wovon Jasmin sprach. »Nein, nein«, antwortete sie kleinlaut, »natürlich nicht«, und packte die Schmetterlinge wieder in die

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