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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Perlenkette, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Wie Natalia das wohl finden würde, eine Frau zu sein, die Macht über ihr Umfeld hatte und das nicht zur Schau stellte? Natalia war sicherlich auch mächtiger, als sie es sich eingestand. Warum sonst sollte jemand sie verfolgen?
    Jetzt entdeckte Ella noch etwas auf dem Foto, das ihr an Dorothy bisher nicht aufgefallen war: eine unendliche Müdigkeit, eine Müdigkeit, die nicht von einer ihrer zahlreichen durchzechten Nächte kommen konnte. Eine Müdigkeit, die alles mitriss, was das Leben ihr bot. Als Dorothy starb, fand man sie in einem ihrer zahlreichen Hotelzimmer allein mit ihrem Pudel, der auf den Namen hörte: C’est tout . Natalia würde vielleicht traurig werden, wenn ihr Leben so zu Ende ging, aber sie würde verstehen, dass es trotzdem ein Leben war.
    Ella schaute an die Decke und musste plötzlich an ihre Mutter denken, an die Müdigkeit in ihrem Blick und ihren Lebenshunger. An ihren eigenen Lebenshunger, ihre eigene Müdigkeit und ihre Kindheit.

6
    Ellas Kindheit war anders als die der anderen Kinder, die sie damals kannte. Natürlich hatte das mit ihrer Mutter zu tun, aber nicht nur; anfangs war der Alkohol noch nicht das Problem, anfangs sah ihre Mutter nur ein bisschen verrückt aus mit dem lila Lidschatten, den prachtvollen orientalischen Kleidern und den Glitzersandalen – schließlich waren die siebziger Jahre vorbei, und die achtziger Jahre waren kühl und beherrscht und legten den Frauen Polster auf die Schultern. An ihrer Mutter war all das freilich vorbeigegangen, sie trug ihre Gewänder wie eh und je, sagte unpassende Dinge zu den ordentlich frisierten Müttern der anderen Kinder, verschwand immer mal wieder für eine Woche und weigerte sich, Elternabende zu besuchen, Pausenbrote zu schmieren und morgens aufzustehen – sodass Ella und Jasmin eigentlich immer zu spät in die Schule kamen.
    Ihr Kühlschrank war meist leer, und dann, ganz unerwartet, barst er vor lauter Köstlichkeiten. Woher die Wachteleier, Schinken und Pralinen kamen, wussten sie nicht, ihre Mutter kaufte jedenfalls nicht ein. Supermärkte waren ein Graus für sie, und in eine Warteschlange stellte sie sich schon gar nicht. Sie bat ihre Töchter, auf dem Weg aus der Schule schnell noch bei dem kleinen Laden an der Ecke ein paar Nudeln, Tomaten, Brot und eine Milch mitzubringen, und das war’s. Sie schrieben immer an. Woher ihre Mutter das Geld nahm, die Rechnungen zu bezahlen, wussten sie nicht, aber der Besitzer, ein kleiner, dicker Libanese, strahlte jedes Mal, wenn er ihre Mutter sah, nannte sie Venus und zog das »u« dabei in die Länge.
    Manchmal schien ihre Mutter einer Arbeit nachzugehen. Dann war sie immer ganz aufgekratzt, steckte sich Schmetterlinge ins Haar und ging mit Ella und Jasmin morgens aus dem Haus. Doch das waren nur Phasen. Sie sprach Arabisch und Französisch, Englisch und Spanisch. Wann sie all die Sprachen gelernt hatte, wusste Ella nicht. Manchmal erzählte ihre Mutter ihnen von irgendwelchen Delegationen, denen sie behilflich war. Doch Ella konnte sich unter dem Wort »Delegationen« überhaupt nichts vorstellen und hatte auch nie versucht, sich auszumalen, auf welche Art und Weise ihre Mutter und die Schmetterlinge einer dieser Delegationen behilflich gewesen sein könnten. Später dachte Ella immer mal wieder, ihre Mutter hätte sich für Liebesdienste bezahlen lassen, aber das war mitten in ihrer Pubertät.
    Wenn Jasmin nicht irgendwann das Zepter in die Hand genommen hätte, wären sie wahrscheinlich an Skorbut gestorben oder von der Schule geflogen. Doch seit dem Tag, an dem ihre Schwester die Regeln festgelegt hatte, gab es Vollkornbrot mit Salatblatt und einen geviertelten Apfel für die Schule, und sie waren rechtzeitig und gebügelt da. Ihre Schwester achtete darauf, dass neue Freunde die Mutter nicht zu früh zu Gesicht bekamen und deren Eltern am besten gar nicht. Sie schrieben gute Noten, fragten sich gegenseitig Lateinvokabeln ab, beschränkten die Fernsehzeit auf eine halbe Stunde und hatten immer Naturjoghurts im Kühlschrank.
    Ihre Mutter freute sich über die Joghurts und die guten Zeugnisse und brachte all das nicht mit sich in Verbindung. Im Grunde genommen hatte sie nie verstanden, was Kinder eigentlich von ihr wollten. Wenn sie mal zu Hause war, war sie freundlich, machte ihren Töchtern Komplimente und wollte ständig mit ihnen schmusen. Zu Jasmin sagte sie dann gerne: »Du Blüte des Orients«, woraufhin Jasmin die

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