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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Augen verdrehte und das Zimmer verließ. Manchmal spielte ihre Mutter sogar mit ihnen. Sie saß auf dem Teppich im Kinderzimmer, schaute ihre Töchter fragend an und zog mit großer Hingabe Puppen an und aus – nur war das eben nicht berechenbar, nichts war berechenbar.
    Anfangs hatte Ella das neue, von ihrer Schwester geregelte Leben mit Vollkornbrot und Apfelspalten euphorisiert. All die Regeln und Regelmäßigkeiten legten sich wie ein solide glänzender Lack auf das Chaos der letzten Jahre, doch irgendwann wetzte sich das ab, und darunter blitzte wieder das alte Gefühl hervor: Sie war in ein Leben geraten, das ihr nicht passte; nichts daran passte, es war zu lose und zu fest, zu weit und zu eng, es passte ihr einfach nicht.
    Und so begann sie, in andere Leben abzutauchen, zuerst versuchte sie es mit Fernsehen, aber das verbat ihre Schwester. Dann begann sie zu lesen, Stunden, Tage, Wochen, alles, was ihr in die Finger kam. Und dann begann sie sich zu wehren: Sie weigerte sich, die Kleider zu tragen, die in ihrem Schrank lagen. Sie trug sie einfach nicht. Sie trug die Kleider ihrer Freundinnen und die Kleider ihrer Schwester, sie verwandelte die Blusen ihrer Tanten in bodenlange Gewänder, aber ihre eigenen Kleider rührte sie nicht an; musste sie doch einmal einen ihrer Röcke überziehen, weil ihre Mutter einem ihrer seltenen erzieherischen Impulse nachging, riss sie ihn am ersten Zaun entzwei.
    Außerdem weigerte sie sich immer öfter, das Essen auf ihrem Teller zu sich zu nehmen, sie verweigerte oft tagelang jeden Bissen, der ihr aufgetan wurde, selbst wenn ihre Schwester es gekocht hatte. Ella hatte nichts gegen ihre Schwester, sie hatte etwas gegen ihr Leben, und das wurde von dem Essen auf ihrem Teller genährt. Anfangs reagierte ihre Schwester besorgt, dann beleidigt, dann mit Strafandrohungen, aber nichts nützte; zu guter Letzt versuchte sie es mit Pragmatismus, der mehr und mehr zu Jasmins Königsdisziplin wurde. Von da an tauschte Jasmin einfach ihren eigenen Teller mit Ellas: Fischstäbchen gegen Fischstäbchen, Makkaroni gegen Makkaroni, Schnitzel gegen Schnitzel. Das überzeugte Ella.
    Jasmin war egal, was sie aß und welche Kleider sie trug. Sie hatte einen anderen Plan. Sie wollte vor allem eines: klare eigene Grenzen. Wenn sie im Sommer Eis aßen – Schokolade und Vanille –, zog sie mit der spitzen Zunge eine kleine Rille zwischen das Braun und das Weiß, dann leckte sie erst die eine, dann die andere Kugel. Ella hingegen nahm ihr Eis im Becher und verrührte die beiden Kugeln. »Warum tust du das?«, fragte Jasmin Ella jedes Mal. »Du bist so verdreht«, sagte Jasmin, mit ihren Augen den Runden des kleinen grünen Eislöffels folgend.
    Eines Tages, Ella war in der zweiten Klasse, meldete Jasmin beide zu einem Englischkurs in der Volkshochschule an. Als Ella nach dem Grund dafür fragte, sagte Jasmin mit düsterer Miene: »Falls wir mal hau ruck das Land verlassen müssen.« Ella traute sich nicht, weiter nachzufragen, aber der Satz wehte sie noch Jahre danach an, und er roch nach Bedrohung – ein bisschen würzig, aber aufregend.
    Als Ella die ersten Spionageromane las, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: ihre Mutter war eine Spionin – das Arabisch, die Wachteleier im Kühlschrank, der unerklärliche Geldfluss. Doch auch dieser Verdacht erhärtete sich nicht. Ella wäre nie eingefallen, ihre Mutter zu fragen, was sie eigentlich machte, wenn sie das Haus mit Schmetterlingen im Haar verließ. Später, als die Zeit der Schmetterlinge vorbei war, arbeitete ihre Mutter in einem arabischen Kulturinstitut. Sie war dort so etwas wie eine Buchhalterin. Doch das war später.
    Vorher gab es die Delegationen und die Scheichs. Für ihre Mutter waren alle arabischen Männer Scheichs, sie nannte sie so, auch wenn wahrscheinlich keiner der Männer, die ihre Mutter je kennengelernt hatte, ein echter Scheich gewesen war; nur den Libanesen vom Laden an der Ecke nannte sie »Dickie«… »Wisst ihr, was das Problem mit den europäischen Männern ist?«, hatte ihre Mutter sie einmal gefragt, um sogleich selbst zu antworten: »Sie können mich einfach nicht trösten.«
    Die sogenannten Scheichs waren ein Bestandteil ihres Lebens und genauso unbeständig wie der Inhalt ihres Kühlschranks. Manchmal wurden die drei Frauen mit Geschenken überhäuft, manchmal gab es keine Geschenke, dann hatte ihre Mutter Liebeskummer. Und immer, wenn sie Liebeskummer hatte, backte sie Torten; ihre Mutter backte eine Torte

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