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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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er hatte ein rotes Gesicht und schwitzte; die Frau glitt über den Boden. Sie lächelte und blickte nach vorne, während er versuchte, ihr etwas zu sagen. Irgendwann würde der Mann der Frau die Mühelosigkeit übel nehmen, dachte Ella und wunderte sich im gleichen Moment darüber, dass sie selbst in einem Moment wie diesem nicht aufhören konnte, alles zu beobachten, was um sie herum geschah.
    Sie sah nach oben zu der Fensterreihe, hinter der sie Natalia vermutete. Noch war dort nichts zu sehen. Sie holte ihr Telefon aus der Tasche, schaute noch einmal auf den Zettel. Wie lange sollte sie warten, bis sie die Polizei alarmierte? Eine Minute, zwei, wie schnell war ein Mensch tot? Da erschien Natalia am Fenster, öffnete es und rief: »Du kannst hochkommen.«
    Ella zögerte.
    Auf Natalias Gesicht zeigte sich nun ein müdes Lachen, in dem auch ein bisschen Erleichterung zu erkennen war: »Komm ruhig, glaub mir, alles ist gut.«
    Als Ella in die Wohnung trat, flüsterte Natalia: »Die Kohle ist an ihrem Platz, niemand da, Fehlalarm.«
    »Was?«, fragte Ella.
    Natalia winkte ab: »Ich habe mich getäuscht, ich dachte…«
    »Was dachtest du?«, fragte Ella.
    »Nichts«, sagte Natalia, »ich hab mich halt getäuscht.«
    »Was dachtest du, Natalia?«, fragte Ella ungeduldig.
    »Ich dachte…«, sie winkte ab, öffnete den Backofen, holte ein Bündel Hunderterscheine hervor und legte sie vor sich auf den Tisch, »es ist weg, ich dachte, ich hätte vergessen, es zu verstecken, aber es war versteckt und alles ist gut. Fünftausend Euro!«
    »Deswegen die ganze Aufregung?«, fragte Ella. »All diese Aufregung, weil du nicht mehr wusstest, ob du dein Geld richtig versteckt hattest? Das ist jetzt nicht dein Ernst, Natalia.«
    »Ich dachte, jemand hätte die Kohle genommen und wäre vielleicht sogar noch in der Wohnung.«
    Der Weißhaarige, dachte Ella.
    »Ohne die Kohle geht mein Leben den Bach runter! Ohne die Kohle keine Brüste und ohne die Brüste keine Sängerin. Verstehst du das nicht?«
    Nein, das verstehe ich nicht, dachte Ella und schüttelte den Kopf.
    »Eben. Das ist doch sonnenklar. Und nur damit du das auch wirklich richtig verstehst: Ich mach das nicht aus Eitelkeit. Ich brauch die Dinger. Wärst du gerne dein Leben lang Fahrradkurierin?«
    Ella zuckte mit den Schultern. Schlagartig breitete sich in ihr eine bleierne Müdigkeit aus. Sie fühlte sich leer und erschöpft, sie wollte zurück in Horowitz’ Wohnung, sie wollte mit all dem hier nichts mehr zu tun haben. Das war alles zu viel, viel zu viel. Was war denn bloß mit diesem Wochenende los?
    Ella schaute sich um.
    Die Wohnung bestand aus einem Raum mit einer Kochnische. In einer Ecke lag eine Matratze auf dem Boden. Das Bett war frisch bezogen, auf dem Kopfkissen saß ein alter Stoff-Waschbär. Neben dem Bett stand eine Kleiderstange, auf der Sportkleidung hing und einige Abendkleider in Rot, Pink und Lila aus einem billig aussehenden Seidentaft. Darunter standen vier Paar Turnschuhe und ebenso viele Pumps, alle schwindelerregend hoch und zwei mit Strass verziert. Natalia in Pumps und Abendkleid?
    Die Wohnung war kahl, Natalia hatte keine Bilder, keine Bücher, keine Vorhänge, kein Sofa, nur einen Fernseher und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen vor der blitzsauberen Kochnische. In der einen Ecke stand eine weitere Matratze hochkant an die Wand geklappt. Auf dem kleinen Tisch lag ein altmodisches Mikrophon.
    Die Wohnung wirkte wie eines dieser möblierten Apartments, die man auf Zeit mieten konnte, nur weniger komfortabel. Das war die Wohnung eines Menschen, der sich keinen Reim auf sein Leben machen konnte.
    Natalia folgte Ellas Blick, setzte einen Kaffee auf und sagte: »Sieht hier immer noch so aus wie kurz nach meinem Einzug. Und der ist jetzt fünf Jahre her. Wenn ich ein neues Paar Schuhe kaufe, schmeiße ich ein altes weg, ich hänge keine Bilder auf, weil mir die meisten Bilder nach kurzer Zeit schon nichts mehr sagen. Die Wohnung ist wie ich, wie mein Leben. Ein Tag, dann kommt der nächste. Bam, bam, bam. Wir sind einfach da – mein Leben und ich. Aber wir wissen beide nicht, wozu und warum. Da hängt nichts zusammen. Ich erinnere mich an alles, was mal war, so, als wäre es einer anderen passiert, verstehst du das?«
    Ella wollte hier keinen Kaffee trinken, sie wollte nach Hause, sie wollte mit alldem nichts zu tun haben.
    Natalia holte eine Tüte Milch aus dem blankgeputzten Kühlschrank, in dem es Joghurts, eine Salami, Senf und Ketchup gab.

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