34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
mich geschehen. Ich kaufte ein hübsches Wellensittichpärchen in Grün und Blau, nannte sie Claude und Maude, und Ella strahlte. Und sogar Jasmin strahlte diesmal, denn sie liebte Tiere, hatte sie schon immer geliebt, und nun hatte sie eine neue Aufgabe. Bald war unsere Wohnung voll mit Käfigen in allen Größen und Formen, zum Schluss kaufte ich sogar Volieren mit größeren Vögeln. Und je mehr Vögel in unserer Wohnung um die Wette zwitscherten, desto mehr hellte sich unsere Stimmung auf, die ja durch die ganzen Scheidungen und so nicht gerade rosig war; also je lauter das Gezwitscher wurde, desto mehr vergaß ich meine Ehemänner und Jasmin ihre Verklemmtheit, und Ella war ja sowieso unser Sonnenschein, die musste nichts vergessen, außer den Unfall vielleicht und die leidige Frage nach ihrem Vater, nun ja.« Den letzten Satz verschluckte sie.
Horowitz hatte nun fast die ganze untere Reihe der Buchtitel entziffert. Neben dieser Zora Neale Hurston standen Werke von Dorothy Parker, Lady Hester Stanhope und Ingeborg Bachmanns Undine geht.
Ellas Mutter folgte seinem Blick: »Ja, ja, die berühmten Frauen. Das waren die Gutenachtgeschichten für meine Töchter. Immer, wenn ich abends zu Hause war, was ja nicht so oft vorkam, auch das vielleicht ein Fehler…, aber immer, wenn ich zu Hause war, dann habe ich meinen Töchtern von prachtvollen Frauen und deren Leben erzählt. Gertrude Bell und Lady Stanhope waren meine Lieblingsfiguren. Die frühen Reisen in den Orient, diese Abenteurerinnen, aber auch Dorothy Parker mit ihren Exzessen und Zora Neale Hurston, dieses Stehaufmännchen, das die schwarze Literaturszene durcheinandergewirbelt hat. All die Damen, die Sie gerade da im Bücherregal studieren, um mir nicht zuhören zu müssen…«
Horowitz bekam einen Schreck.
»All diese Damen hat Ella schon als kleines Mädchen kennengelernt, und jetzt tut sie so, als hätte ich damit nichts zu tun gehabt. Nur weil sie aus irgendeinem Grund momentan alles verteufelt, was von mir kommt. Dabei war sie doch so ein Sonnenschein früher und ist es im Grunde immer noch… Es ist wirklich verletzend. Verstehen Sie das?«
Horowitz nickte.
»Das ist schön, dass Sie das verstehen. Und auch schön, dass ich Ihnen das alles erzählen kann. Im Moment bin ich ziemlich allein, und wenn ich irgendetwas nicht ertragen kann: dann das Alleinsein. Und Sie?«
»Ich war eigentlich immer gern allein«, sagte Horowitz.
»War?«, fragte Ellas Mutter.
»Bin, war…?«
»Na ja, wie auch immer. Wir sind ganz vom Thema abgekommen. Ich wollte Ihnen ja von den Vögeln erzählen: Also irgendwann war unsere Wohnung zweigeteilt, in einen unteren Teil, in dem wir und die verwaisten Blumenvasen lebten, und einen oberen, in der die Vögel lebten, die Sittiche, Kakadus und Papageien. Jasmin hatte wirklich ein Händchen für Tiere, und es machte ihr Spaß, die Käfige in Schuss zu halten, und Ella malte sich den lieben langen Tag aus, sie würde im Dschungel leben. Sie hatte so eine überbordende Phantasie. Doch dann hörte sie von einem Tag auf den anderen auf, sich für die Vögel zu interessieren, sie ignorierte sie regelrecht und unterhielt sich nicht einmal mehr mit dem Papagei, der tags zuvor noch ihr Liebling war, ihren Namen sagen konnte und sie immer so verständnisvoll anschaute. Und als ich abends mal an Ellas Bett saß und ihr gerade was von Gertrude Bells Liebe zur Wüste erzählen wollte, da weinte sie. Und als ich sie fragte, warum sie so weinte, sagte sie, dass sie die Vögel zu sehr liebte und jetzt schon wusste, dass ich sie ihr wieder wegnehmen würde irgendwann, und dass sie deswegen lieber jetzt schon aufhörte, sie zu lieben. Hat man so was schon gehört? Können Sie sich das vorstellen?«
»War es denn so?«, fragte Horowitz.
»Natürlich ließ ich dann alle Vögel frei. Was hätte ich auch anderes machen können, wenn sie meine Tochter so traurig machten? Ich hatte nicht vor, Vögel zu halten, an denen sich keiner mehr erfreute. Und an dem Tag, an dem Ella nach Hause kam und die leeren Käfige vorfand, hatten wir unseren ersten und einzigen Streit. Sie schrie mich regelrecht an: Wie gemein ich sei und wie ich ihr das antun könne! Dabei hatte sie es doch selbst gesagt. Ich verstehe das bis heute nicht. Und jetzt finde ich hier diesen hübschen kleinen Vogelkäfig, und das kann ja nur heißen, dass sie mir verziehen hat und sich nun daran erinnern will, wie schön es zu Hause bei uns war mit all den Blumen und den Vögeln. Das
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