34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
ist doch rührend, finden Sie nicht?«
Horowitz räusperte sich: »Sicher.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und tranken den Tee. Währenddessen schaute Ellas Mutter immer mal wieder kurz zu ihm herüber, so als wartete sie darauf, dass er nun das Wort ergriff.
Horowitz gab sich also einen Ruck und fragte: »Ella hat mir erzählt, dass Sie Ella Fitzgerald mögen?«
»Sie etwa auch?«
»Nein, ich höre Barockmusik, ein bisschen Satie und Schubert, ein paar alte Schlager, das war’s.«
»Wollen Sie trotzdem hören, warum ich Ella nach ihr benannt habe?«
»Doch, ja«, sagte Horowitz.
»Ich wollte meiner Tochter Fitzgeralds Leidenschaft und Vergnügtheit mitgeben. Und so ist Ella auch geworden. Ella ist wie Fitzgeralds Stimme: In den oberen Lagen naiv, fröhlich und kindlich, in den mittleren erdig und stark und in der Tiefe rund, sanft und samten. Bei Jasmin ist das etwas anderes. Jasmin hätte ich lieber Edeltraut nennen sollen oder Wilhelmine. Sie ist so unglaublich deutsch, dass sie mir selbst den Duft ihres Namens übel nimmt. Sie hat mich mal gefragt, ob ich sie nach einer Antibabypille genannt habe. Können Sie sich das vorstellen? So was fragt mich meine Tochter! Ich meine…«
»Vielleicht wollte sie einfach nur hören, dass Sie froh sind, sie bekommen zu haben…«
»Ach, Gottchen. Also, wenn sie das nicht weiß…«
»Mein Vater hat mir das auch nie…«, fing Horowitz an und brach dann ab.
Ellas Mutter überging seinen Einwand und murmelte stattdessen vor sich hin: »Eine Antibabypille…«
»Nicht dass ich das besonders gut könnte, aber manchmal muss man die Dinge, die im Raum stehen, aussprechen«, sagte Horowitz.
»Jetzt noch? Nach dreißig Jahren?«
»Warum nicht?«, fragte Horowitz.
»Ich soll meiner dreißigjährigen Tochter sagen, dass ich sie nicht nach einer Antibabypille benannt habe?«
»Ich glaube, das wäre gut.«
»Das ist doch vollkommen absurd.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Horowitz.
»Ich kann’s ja mal versuchen.«
»Und Ella? Wollen Sie Ella jetzt anrufen?«, fragte Horowitz.
»Nein, danke«, sagte Ellas Mutter.
»Wirklich nicht, ich meine…?«
»Wissen Sie, ich hab’s ja vorhin schon mal angedeutet: Wir haben gerade eine schwierige Phase. Und sie würde wahrscheinlich gar nicht erst wollen, dass ich hier in ihrer Wohnung sitze, und dann hätte sie schon wieder einen Grund, auf mich sauer zu sein.«
Sie schwiegen wieder.
»Sie wirken wirklich nicht wie jemand, der ein misslungenes Leben hinter sich hat«, sagte sie leise und blinzelte zu ihm herüber.
Horowitz schaute sie verwundert an.
Und dann begann Ellas Mutter zu weinen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie versuchte es nicht zu verbergen: »Wissen Sie, wie das für mich ist, ich meine, hier zu sitzen?«
Horowitz schüttelte den Kopf, legte ihr zögerlich eine Hand aufs Knie, dann zog er sie wieder zurück.
»Ella lässt mich nicht mehr in ihr Leben«, sagte sie schniefend. »Ich klingele immer mal wieder hier, wenn ich in der Stadt bin, eine andere Möglichkeit habe ich ja nicht, aber sie ist nie zu Hause, oder vielleicht macht sie auch einfach die Tür nicht auf, ich weiß es nicht. Sie sagt, dass sie mich nicht sehen möchte oder wenn, dann nur bei ihrer Schwester. Und wie das bei ihrer Schwester immer abläuft…, das ist ein Trauerspiel. Da werden die Stimmungen – die schönen, die traurigen, die wütenden – alle ausgetrocknet. Man kommt sich fast vor wie… wie eine dieser Tütensuppen. Kennen Sie die? Karotte zu einem halben Fingernagel gepresst und jeder Feuchtigkeit entzogen. Und Ella macht da mit und denkt, sie hätte mir gegenüber ihre Schuldigkeit getan. Dabei ist das noch viel schlimmer. Wir sind eine Trockensuppenfamilie geworden. Lauter Edeltrauts. Kein Duft, kein Schwung, nichts Frisches mehr.«
Horowitz hob die Tasse, obwohl sie längst leer war, noch mal an seine Lippen.
»Und in der Liebe sind beide auch total verkorkst. Jasmin hat diesen rührenden Mann, der keinerlei Leidenschaftlichkeit in ihr weckt und sie auch noch in ihrem Perfektionswahn unterstützt, und Ella ist so einsam, dass sie ihre Wohnung mit Ihnen tauscht. Dabei ist sie doch so ein reich beschenktes Wesen. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich immer so abschottet und so viel alleine ist.«
Horowitz stand auf und ging in die Küche, um noch einen Tee aufzubrühen. Doch Ellas Mutter schien seinen Weggang misszuverstehen, denn kaum hatte er den Wasserkocher in Gang gesetzt, sagte sie: »Ich
Weitere Kostenlose Bücher