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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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mit Tulpen oder Margeriten bepflanzen, aber jetzt wusste sie nicht mehr, ob Tulpen trösteten, ob Tulpen in der Lage waren, ein Wrack in ein Beet zu verwandeln. Verwandeln…
    Ihr achtzehnter Geburtstag. Ihre Mutter hatte sich in die Mitte des Münchner Wohnzimmers gestellt, um eine Rede zu halten. Sie hatte eines ihrer peinlichsten Kleider getragen, viel zu bunt, leicht transparent, und der eine Träger rutschte unentwegt über die Schulter. Sie hatte schon mehrmals die Jungs aus Ellas Klasse zum Tanzen aufgefordert und den Mädchen einen Sekt nach dem anderen aufgezwungen. Dann kam die Rede. Ihre Mutter war schon ziemlich angetrunken, als sie ein paar Mal mit einer Gabel gegen ihr Weinglas schlug, um für Aufmerksamkeit zu sorgen, und ihre schwere Zunge schlingerte durch die Sätze, als würde sie jeden Moment das Gleichgewicht verlieren: »Liebste Ella, mein Vögelchen! Heute wirst du also erwachsen, und deswegen möchte ich deinen Freunden ein Geheimnis verraten, ihnen verraten, wer du bist: Du bist nämlich eine Alchimistin des Lebens. Du verwandelst Schwefel in Gold, du destillierst, extrahierst und sublimierst das Leben so lange, bis es dich strahlen lässt und du dich damit schmücken kannst. Dein Umwandler ist dabei nicht der Stein der Weisen wie in alten Zeiten, sondern einzig und allein deine überbordende Phantasie. Unsere Generation – und dabei vor allem wir Frauen – haben dafür gekämpft, die Hoheit über unser Leben zu gewinnen, wir haben es den Kirchen, der Gesellschaft, der Moral abgerungen, und ihr könnt es jetzt zur Vollendung bringen. Wir haben uns selbst verwirklicht, damit ihr eure eigene Wirklichkeit gestalten könnt! Ihr seid jetzt also die Zeremonienmeister eures eigenen Glücks! Das ist ein Geschenk! Nutzt es!« Ellas Freunde schauten allesamt auf den Boden, Jasmin hatte den Raum verlassen. »Du, Ella, nutzt es schon, du kannst es schon, du hast es schon immer gekonnt. Wie du das machst, die schmerzhaften Erfahrungen deines Lebens so zu verwandeln und zu veredeln, bleibt ganz in der Tradition der großen Alchimisten ein gut gehütetes Geheimnis. Und ob du es je mit jemandem teilen wirst, weiß niemand. Manchmal habe ich die Befürchtung, dass dir dein Geheimnis wichtiger ist als die Menschen, mit denen du es teilen könntest. Und manchmal habe ich das Gefühl, du hast Angst, die Gabe zu verlieren, wenn du dich mitteilst, aber ich glaube, das ist ein Irrtum. Du kannst dich ruhig öffnen, Ella, dann strahlst du noch mehr. Noch war sie nicht da, die große Liebe, aber bald wird sie kommen«, dabei schaute sie einmal bedeutungsvoll in die Runde der Jungs, die an ihren Gürteln, Haarspitzen oder Hemdkrägen herumnestelten, »und dann wirst du sehen, dass man auch strahlen kann, wenn man sich öffnet; und dass man auch strahlen kann, wenn nicht alles glänzt. Ich wünsche dir also die erste große Liebe!« Sie erhob ihr Glas: »Auf Ella, die Alchimistin, und die große Liebe!«
    Damit war die Party gelaufen. Ellas Schulfreunde standen noch eine Weile starr und verlegen herum, dann begannen die Mädchen zu tuscheln und die Jungs sich einer nach dem anderen zu verabschieden. Jasmin räumte in der Zwischenzeit alles weg, was auch nur halbwegs benutzt aussah, und Ella zog sich ins Bad zurück und wollte nie wieder herauskommen.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück fuhr Jasmin ihre Mutter an, sie hätte Ella den achtzehnten Geburtstag versaut, und Ella sagte kein Wort. Ihre Mutter entgegnete, sie habe die jungen Leute nur animieren wollen, sich ein bisschen gehenzulassen, sie seien ja alle so gesittet gewesen, und so, so könne man doch nicht sein Erwachsenwerden feiern. Jasmin war daraufhin wort- und tonlos aufgestanden, hatte Ella an die Hand genommen und aus der Tür gezogen. »Sie versteht es einfach nicht«, hatte Jasmin gesagt, »sie wird es nie verstehen.«
    Und jetzt saß Ella hier in Horowitz’ Wohnung – mit ihrem Leben in der Hand und wusste nicht mehr, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das, was sie heute erlebt hatte, so verwandeln sollte, dass es ihr eine Zukunft offenhielt. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Leben in der Hand halten sollte, ohne es durch die Finger rieseln zu lassen. Sie wusste, dass es einzig und allein an ihr lag, ob sie sich die Geschichte mit Paul jetzt als große Liebe oder als bedeutungslose Affäre verkaufte; dass es nur an ihr lag, ob sie die Szene mit seiner Frau als unverzeihlichen Betrug oder als eine Lappalie

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