34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
mit der Hand auf ihrem Rücken. Jasmin hatte ihr rotes Kleid passend zur Signalfarbe der ehelichen Umarmung gewählt, und Ella wusste nicht, was sie mehr befremdete: dass Jasmin ihre Krankheit benutzt hatte, um Ella und Paul hierherzulocken, oder dass Jasmin ihre Krankheit völlig in ihr scheinheilig perfektes Leben integriert hatte. Und jetzt merkte Ella einmal mehr, wie sehr es sie frustriert hatte, dass Jasmin ihre Fragen nach der Krankheit unbeantwortet gelassen hatte und wie wenig sie bereit war, sich zu öffnen. Ella wollte auf dem Absatz kehrtmachen.
»Wollt ihr nicht hochkommen?«, fragte Jasmin.
Ella und Paul standen immer noch auf dem Treppenabsatz. Nein, dachte Ella, wollen wir nicht.
Doch natürlich kamen sie hoch, und plötzlich gewann die Szene an Tempo: Schon hatten sie sich begrüßt, schon passierten sie zu viert die Tür, über der ein Tannenkranz samt roter Schleife hing, schon ging Jasmin mit Paul plaudernd in die offene Küche, in der bereits der Tisch gedeckt war, adventlich, signalfarben. Und so wie Jasmin Paul begrüßt hatte und so wie sie jetzt mit ihm sprach, brauchte sie ihn gar nicht erst kennenzulernen, denn sie tat so, als kannten sie sich bereits.
Jasmin erzählte, wie sehr die Kinder die Besuche bei ihr genossen und wie schön sie es fand, dass Ella sich so liebevoll um sie kümmerte. Ella nickte nur und antwortete nicht. Doch in Jasmins Welt war für solche Ausfälle gesorgt, sie wurden überbrückt, aufgefüllt, abgefedert; außerdem hielt Paul die Stellung.
Jasmin erzählte von einem Dirigenten, der sie in ihrer Praxis besuchte, einen großen Pfau auf dem Rücken tätowiert hatte und während der Behandlung ununterbrochen summte, und Leo entkorkte währenddessen eine Weinflasche. Ella dachte an Natalias Pfauentattoo, setzte sich an den gedeckten Tisch und pustete die brennende Kerze des Adventskranzes aus. Dann griff sie zu einer Streichholzschachtel, auf der ein Foto von Jasmins Kindern klebte, entnahm eines der langen Streichhölzer und zündete die Kerze wieder an.
»Das hast du früher auch immer gemacht«, sagte Jasmin.
Ella hob den Kopf.
»Mit dem Adventskranz gezündelt – das hast du früher auch immer gemacht.«
Ella schaute auf den Kranz und pustete die Kerze wieder aus. Wir hatten nie einen Adventskranz, dachte sie und rieb ein weiteres Streichholz gegen die Zündfläche.
»Bevor wir euch unsere Neuigkeiten erzählen«, sagte Jasmin mit geröteten Wangen, während sie am Küchenblock stand und die Nudeln ins siedende Wasser schüttete, »muss ich aber noch schnell hören, wie es euch geht. Hast du die Wohnung jetzt endlich umgeräumt und das Aquarium und den ganzen Muschelkram entsorgt?«
Warum sollte ich?, dachte Ella und antwortete: »Hm.« Jetzt waren noch drei lange Streichhölzer in der Schachtel.
Leo leitete Paul ins Wohnzimmer, wie der Herr Generaldirektor seinen zukünftigen Schwiegersohn.
»Schlafen die Kinder schon?«, fragte Ella, als es nichts mehr zu zündeln gab, und ging zum Küchenblock hinüber.
»Es ist acht.«
»Ach so.«
Als Jasmin die Nudeln mit der Sauce vermischt hatte, kam sie plötzlich ganz nah an Ellas Ohr, kniff ihr in den Arm und flüsterte: »Bin wieder schwanger. Nummer fünf. Ist das nicht toll?«
Ella schaute sie erstaunt an. »Und dein…«, stotterte sie. …Blut?, dachte sie.
»Mein was?«, fragte Jasmin.
»Dein…«, flüsterte Ella, gab sich einen Ruck, schaute auf das rote Kleid und fragte leise: »Blut?«
»Ach, das…« flüsterte Jasmin und zwinkerte Ella zu. »Welches Blut?«
Welches Blut? Ella schaute auf die Küchenrolle. Was war das denn für eine Gegenfrage?
»Erzähl ich dir gleich. Jetzt feiern wir erst mal.«
Leo und Paul kamen zurück in die Küche, und Jasmin rief: »Ich hab’s schon verraten!«
Paul schaute Jasmin fragend an.
»Dass Nummer fünf unterwegs ist«, sagte Leo und klopfte Paul auf den Rücken, ganz so, als wäre dieser zu beglückwünschen.
Paul stutzte, suchte Blickkontakt zu Ella, die auf den Boden stierte. Paul beglückwünschte Leo, beglückwünschte Jasmin, und Ella wich Leos Blick aus, als sie auf ihn zuging und murmelte: »Das ist toll, wirklich toll.«
Ella wollte jetzt wirklich nach Hause. Sie wollte nicht dieses Gefühl in sich spüren, das vielleicht sogar Neid war, obwohl sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte, wie sie auf eine Frau neidisch sein konnte, die sich selbst nicht entkam. Eine perfekte Schwester, deren Blut nicht ganz so perfekt war, konnte
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