34° Ost
Soldaten dazu neigten, traditionelle Werte spöttisch abzutun, war er ein hundertprozentiger, kompromissloser Patriot. Die wehmutsvollen Töne eines Signalhorns oder der Anblick des Sternenbanners vor dem Hintergrund eines tiefblauen Himmels konnten ihn zu Tränen rühren. Aber er war auch Realist. Er wußte, dass er eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen hätte – möglicherweise die eines Gelehrten –, wären nicht seine Vorfahren seit dem Unabhängigkeitskrieg stets Soldaten gewesen. Auch seine Kenntnisse der slawischen Sprachen und der Militärgeschichte waren zurückzuführen auf das geistige Klima, das seit Generationen in seiner Familie geherrscht hatte. Seine Vorfahren hatten in allen Kriegen gekämpft, in die Amerika verwickelt gewesen war. Sein Vater hatte es bis zum Stabschef gebracht. Und doch wußte er genau: Hätte sich der Präsident der Vereinigten Staaten nicht persönlich für William Tecumseh Sherman Tate interessiert, würde irgendein anderer Offizier – einer, der vielleicht sogar besser qualifiziert war – jetzt das amerikanische Kontingent auf Sinai befehligen.
Und er wußte auch – es war eine bittere Erkenntnis –, dass er in seinem privaten Leben ein Versager war. Er hatte als Gatte und als Vater Schiffbruch erlitten. Seine Frau hatte ihn vor drei Jahren verlassen. Sein Sohn studierte in Dartmouth und stand ein Jahr vor der Promotion. Er war der typische langhaarige Gammler und ein glühender Verehrer des Vizepräsidenten Talcott Bailey. Dass der Junge die militärische Tradition der Familie fortsetzen würde, war nie ernstlich in Erwägung gezogen worden. Ich bin der letzte, dachte Tate oft, und war nicht sicher, ob er sich dabei erleichtert oder enttäuscht fühlte.
So unterschied sich also Bill Tates Bild von sich selbst sehr wesentlich von Captain Adams' schwärmerischen Vorstellungen. Er dachte an Deborah – Deborah Zadok, Hauptmann in der israelischen Armee und Verbindungsoffizier beim Stab. Die junge Israelin war die falsche Partnerin für einen Mann in seiner heiklen Position. Er zweifelte nicht daran, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Leute vom CIA dem Pentagon melden würden, dass der amerikanische Kommandeur sexuelle Beziehungen zu einer Frau unterhielt, die im Verdacht stand, eine Agentin des Mosa'ad zu sein.
Seine Aufmerksamkeit kehrte zu Jermolow zurück. »Bevor wir die Sitzung vertagen, General Tate«, sagte dieser, »möchte ich noch unbedingt Protokoll Nummer 542 verlesen lassen. Es wurde der Luftraum über der entmilitarisierten und der sowjetischen Zone durch eine amerikanische Maschine vom Typ Shrike verletzt, die den Küstenstreifen zwischen dem 28. nördlichen Breitengrad und dem sowjetischen Landeplatz bei El Tur überflogen hat.« Die von dem neuen De Havilland-McDonnell-Douglas-Konzern hergestellten Shrikes waren eine Quelle dauernden Ärgernisses für die Sowjets. Die Maschine war ein Senkrechtstarter mit zwei Mach Geschwindigkeit und verfügte über eine beängstigende Vielzahl an Bordwaffen und Aufklärungsgeräten. Die Russen hatten dem Shrike nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen – und wußten ihrer Ohnmacht nicht anders Ausdruck zu verleihen, als dass sie sich unablässig bemühten, in der entmilitarisierten Zone ein Verbot für diesen Flugzeugtyp durchzusetzen.
Jermolow blickte zu General Ulanin hinüber. »Ich finde, Genosse General, wir sollten diesen Einflug nicht erst bei der nächsten Sitzung behandeln. Das Beobachter-Team der Vereinten Nationen müßte benachrichtigt werden.«
Bill Tate spürte, dass im Ton des Fliegeroffiziers seinem Kommandeur gegenüber eine gewisse Herausforderung mitschwang. Wenn man mit sowjetischen Militärs zu tun hatte, mußte man auf jede Nuance achten. War dies nur Ausdruck von Jermolows Verärgerung, oder hatte der Kerl aus Kairo oder aus dem Kreml einen Wink erhalten, wonach der alte General in Kürze auf ein Abstellgleis geschoben werden sollte? Und welchen Einfluß würde ein solcher Wechsel auf die sowjetische Politik in der Zone haben – gerade jetzt, wo Talcott Quincy Bailey auf Sinai erwartet wurde?
Die Männer im Kreml vermieden schon seit langer Zeit eine Konfrontation mit den USA. Sahen sie vielleicht jetzt eine Chance, Vizepräsident Bailey unter Druck zu setzen, um ihm irgendwelche Zugeständnisse abzufeilschen? Nun verhandelte schon eine ganze Generation von sowjetischen Politikern und Militärs mit den Amerikanern, und sie schienen immer noch nicht begreifen zu
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