34° Ost
Stunden davon erfahren. Das ist die reine Wahrheit.«
»Ich kenne solche leninistischen Wahrheiten seit zwanzig Jahren. Aber lassen wir das. Was ich selbst glaube, ist nicht wichtig. Was man in Washington glaubt, das zählt, und dort ist man skeptischer denn je.«
Ulanins Blick verschleierte sich. »Eure strategischen Verbände wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Uns ist ein solcher Akt der Feindseligkeit unbegreiflich. Gegen wen kann sich diese Drohung richten?«
»Das KGB hat möglicherweise die Abu Mussa auf Fotos übersehen, aber ich glaube, auch euer Geheimdienst weiß, dass man von einem Sabotageakt gegen die ›Air Force One‹ spricht. Und nun das hier«, er wies auf die Wracks und die Toten. »Es ist besser, Sie kehren mit Ihren Leuten in die Zentrale Zone zurück, Juri, und ich erledige, was mir noch zu tun bleibt.«
»Wir mußten unsere eigenen Streitkräfte ebenfalls alarmieren. Wir tun es nur widerstrebend, und wir verstehen auch, dass ihr über diese Vorfälle erregt seid, aber wir müssen Schritte unternehmen, um jede Bedrohung der Sowjetunion zu vereiteln.«
Das klang so traurig und ehrlich besorgt, dass sich Tate trotz seines Argwohns gerührt fühlte.
»Wir kommen wieder auf den gleichen Punkt zurück. Warum habt ihr uns nicht gewarnt, dass sich hier arabische Guerillas befinden?«
Ulanin sagte zornig: »Der Geheimdienst, William, diese blöden Spione! Sie waren so begeistert davon, dass sie den Beweis für den Verstoß eures Fliegers liefern konnten, dass sie ganz darauf vergaßen, alle Filme auszuwerten. Und dann war es zu spät. Die Israelis und nicht unser prächtiges KGB oder GRU haben Leč identifiziert.« Er blickte Tate forschend an. »Aber war eure CIA besser? Wieso wurdet ihr nicht von euren eigenen Leuten verständigt, dass Leč auf Sinai ist?«
Das war eine heikle Frage. Geheimdienste hatten die fatale Eigenschaft, gerade dann zu versagen, wenn man sie am nötigsten brauchte. In seiner eigenen Laufbahn konnte Tate die Fehlentscheidungen gar nicht mehr zählen, die auf Grund lückenhafter oder falsch ausgelegter Informationen erfolgten. Doch diesmal wog das Versagen so schwer, dass die Konsequenzen nicht abzusehen waren. Das Misstrauen zwischen den beiden Großmächten hatte sich dermaßen gesteigert, dass jede bereit war, beim geringsten Verdacht einem Erstschlag des Gegners zuvorkommen. Selbst an diesem Ort, umgeben von den Verheerungen schrecklicher Geschehnisse, spürte man die größeren Gefahren, die hinter dem Horizont lauerten.
»Wir möchten euch helfen«, sagte Ulanin. »Laßt uns wenigstens zeigen, dass wir keine Schuld an diesem Überfall tragen.«
Tate blickte den Russen fest an. Seit er erwachsen war, hatte er mit den Realitäten des kalten Krieges gelebt. Auch die Jahre der Entspannungspolitik hatten diese Realität nicht aus der Welt geschafft. Er hatte mit ansehen müssen, wie seine Soldaten und Freunde von den Kugeln der Kommunisten getötet wurden, während die Beschwichtiger am Konferenztisch diskutierten. Doch Juri Ulanin glaubte er zu kennen, und er bewunderte ihn sogar. Der alte General war jeder Zoll ein Soldat, ein Mann, der sein Vaterland ebenso liebte wie Tate. Diese Liebe bedeutete nicht, dass man alles guthieß, was die Politiker taten. Oft vertrat man gegenteilige Meinungen, allerdings war das für einen Ulanin gefährlicher als für einen Tate.
Der Russe, mit seinem sechsten Sinn, schien diese Gedanken zu erraten. »Wir kennen uns doch, William«, sagte er. »Wir sind Soldaten neuen Gepräges, Sie und ich. Ich bin um einiges älter als Sie, aber in einem Punkt stimmen war überein: Wir glauben daran, dass wir den Frieden zwischen unseren Staaten sichern müssen, wenn die Politiker versagt haben. Es gibt manches, was uns trennt. Aber auf dem Friedhof gibt es keine Ideologie.« Er legte seine schwere Hand auf Tates Schulter. »Ich sage es nochmals: Wir möchten euch helfen. Was wir hier unternehmen, ist von entscheidender Wichtigkeit, das wissen Sie.«
Tate sagte langsam: »Wenn wir die Abu Mussa nicht stellen und die Geiseln befreien, werden die Entscheidungen in Washington und in Moskau fallen, nicht hier, Juri.«
»Wie wird Washington auf diesen Anschlag reagieren?«
»Wenn Talcott Bailey tot sein sollte, wird der Vorsitzende des Repräsentantenhauses – er heißt Fowler Beal – zum Amtierenden Präsidenten ernannt.«
»Was ist er für ein Mensch? Ist er stark?«
Tate schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist nicht stark. Er ist …
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