34° Ost
Arm hockten reglos an einer nahen Säule. Im Halblicht konnte Bailey nicht erkennen, ob sie wachten. Er vermutete aber, dass zumindest einer von ihnen auf dem Posten war.
Neben ihm lehnte Seidel an der Wand. Er döste unruhig vor sich hin, um seinen Mund zuckte es, als die Bilder des nächtlichen Hinterhalts und der vereitelten Flucht durch seine Träume geisterten. Hinter dem Richter ragten ein Paar verstaubter Fallschirmspringerstiefel hervor. Sie gehörten dem Negersergeant Robinson, der in voller Länge fest schlafend an der Mauer lag. Bailey begriff nicht, wie dieser Mann, nach allem, was sie durchgemacht hatten, so völlig abzuschalten vermochte. Doch das war wohl eine der Eigenschaften der Berufssoldaten: sie konnten überall und fast unter jeder Bedingung sofort einschlafen.
Bailey betrachtete wieder seine Umgebung. Das mußte die Katharinenkirche sein. Irgendwann während seiner Studienzeit hatte er über dieses Baudenkmal gelesen, aber er hatte nie gedacht, dass er es unter solchen Umständen kennenlernen würde. Doch sein regsamer Geist besaß die Fähigkeit, Einzelheiten genau zu registrieren, so dass er nun vieles wieder erkannte, was er vor sich sah.
Die Wand, die den Altar und die Apsis vom Kirchenschiff trennte, wurde, wie er sich erinnerte, Ikonostase genannt. Sie war mit Heiligenikonen aus dem 16. Jahrhundert bedeckt. Bailey wußte sehr wenig über sakrale Kunst, aber der Reichtum der Ausstattung beeindruckte ihn, obwohl ihm solches in seiner puritanischen Yankee-Mentalität eigentlich als ein Übermaß an Prunk widerstrebte. Fast hätte er über seine sonderbare Sprunghaftigkeit gelächelt. Während der letzten zehn Stunden hatte er Gewalt, Ekel, Furcht, Abscheu, Verzweiflung, Strapazen erlebt. Und nun fand er sich auf dem Steinboden in die Betrachtung von Schöpfungen kirchlicher Kunst des Ostens versunken – und das unter den Augen von Arabern, die ihn – darüber machte er sich keine Illusionen – töten würden, weil ihnen das Töten so selbstverständlich war wie irgendeine alltägliche Verrichtung. Nicht zum ersten Mal in Baileys Dasein drang das wirkliche Leben mit Macht durch die Hülle blinder Rechtlichkeit, mit der er sich umgab.
Er sah zum Mosaik der Apsis empor. Ein großer, gebieterischer Christus blickte herab, in, wie es schien, strenger Mißbilligung der Entweihung Seines Hauses.
Bailey betrachtete wieder den schlafenden Sergeanten und Richter Seidel, beide regten sich nun und würden gewiß staunen, wenn sie in dieser goldenen Halle erwachten. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, plagten Bailey ernsthafte Zweifel an seiner eigenen Klugheit. Es war schmerzlich, sich selber eingestehen zu müssen, dass jene Wertbegriffe, nach denen er sein Leben ausgerichtet hatte und die er politisch verfocht, hier völlig unhaltbar waren. Ideen wie Frieden, Besonnenheit und Toleranz hatten in Amerika Geltung und Bedeutung, weil sie durch die ungeheure Macht eines modernen Industriestaates gesichert waren. Wie leicht ließ sich davon reden, Schwerter in Pflugscharen umzuschmieden und die Brüderlichkeit aller Menschen zu verwirklichen, wenn man nicht unmittelbar mit dem Hass konfrontiert war, der in der wirklichen Welt regierte. Und er, Talcott Bailey, der die bessere Einsicht hätte haben sollen, er hatte versucht, diese Illusionen von gegenseitigem Vertrauen und Brüderlichkeit zu realisieren, indem er gerade jene Sicherungsbestrebungen, die eine solche liberale Haltung überhaupt erst ermöglichten, glattweg negierte. Wie hatte er nur so verblendet sein können. Jahrelang war er der überzeugte Antimilitarist gewesen, dessen Reden etwa in der rhetorischen Frage gipfelten: »Warum soll man ein Gewehr kaufen, wenn der Preis, den man dafür bezahlen muß, ausreicht, um ein Kind satt zu machen?« Welcher Mensch, der sich mit der Waffe hatte zur Wehr setzen müssen, konnte solche Thesen so idealistisch propagieren?
Aber wie waren solche Prinzipien hier aufrechtzuerhalten? Die bittere Antwort lautete, dass er, um sich zu befreien, ohne weiteres den Hunger vieler Unschuldiger in Kauf genommen hätte. Zum ersten Mal wurde ihm mit schmerzlicher Deutlichkeit klar, dass gerade seine pazifistische Einstellung eine Situation geschaffen hatte, die seinen eigenen und den Untergang aller anderen Pazifisten heraufbeschwören konnte. Um seiner Überzeugung treu zu bleiben, hatte er den Tod von einem halben Hundert Menschen verschuldet und war zum Einsatz in einem wahnwitzigen Hasardspiel von
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