34° Ost
Enver Leč fast um einen halben Kopf überragte, blickte ihn stirnrunzelnd an. Kein Zweifel, dieser Mann war völlig labil, dachte er. Es gab eine Zeit – sie war noch nicht lange her –, da hätte Bailey entschieden die Meinung verfochten, solche Menschen könne man nur mit Geduld und Verständnis behandeln. Aber nun galten andere Maßstäbe. Dieser stämmige, schnurrbärtige, eiskalte Mensch hatte die Macht über Leben und Tod von Baileys Leuten. Während der letzten Stunden war Talcotts persönliche Welt angesichts der gemeinsamen Bedrohung so zusammengeschrumpft, dass er die Geiseln als seine Leute betrachtete. Er trug die Verantwortung für sie, daher mußte er sich hüten, mit diesem Enver Leč offen zu reden und seiner Empörung freien Lauf zu lassen, sonst riskierte er alles.
»Ich weiß nicht, was Sie dadurch erreichen wollen, Oberst«, sagte er ruhig. Mit einem Seitenblick auf Leila Jamil fügte er hinzu: »Was Sie getan haben, wird Ihrer Bewegung keinerlei Nutzen bringen.«
Leč grinste die Araberin an. »Vielleicht interessiert ihn gar nicht, welches Glück er hat!«
»Lass diese Bakunin-Spiele. Sag es ihm.«
Bailey merkte, dass die Frau übermüdet wirkte. Aber es schien sie noch etwas anderes zu beunruhigen als die momentane Situation. Vielleicht befürchtete sie, die Führungsposition bei ihrer eigenen Gruppe einzubüßen. Die Arabische Befreiungsfront hatte immer ihre Bereitschaft betont, Frauen mit gefährlichen, verantwortungsvollen Aufgaben zu betrauen – doch im Grund widersprach diese Haltung den vom Islam geprägten Anschauungen, sie war eine bloße Anleihe bei marxistischen Doktrinen.
»Meinen Glückwunsch, Mr. Bailey, oder vielleicht sollte ich nun eher sagen Präsident Bailey«, begann Leč wieder.
Bailey fühlte, wie er blaß wurde.
»Sie sind überrascht«, sagte Leč. »Ich eigentlich nicht. Wir haben alle mehr Glück, als wir dachten.« Er hielt inne, wartete auf eine Entgegnung der Gefangenen, und als sie schwiegen, fuhr er fort: »Ihr Präsident fand gestern bei einem Flugzeugabsturz den Tod. An einem Ort, der Palm Springs heißt. Ich glaube, damit sind nun Sie Staatschef Ihres Landes, Mr. Bailey.«
Colonel Seidel sog mit einem scharfen Laut die Luft ein. Sogar der unerschütterliche Sergeant Robinson murmelte: »Du lieber Gott.«
Bailey schaute Leila an. »Ist das wahr?«
Die Araberin nickte.
Bailey empfand eine jähe, unbegreifliche Trauer. Er war immer ein politischer Gegner des Präsidenten gewesen. Oft hatte er gegen ihn opponiert, überzeugt, dass der Präsident verfehlt handelte. Manchmal hatte er ihn auch menschlich abgelehnt, immer wieder hatte ihn die betonte Volkstümlichkeit dieses Mannes empfindlich gestört. Aber er war nun einmal Präsident und hatte eine innerlich gespaltene, von Wirren bedrohte Nation geführt – wenn schon nicht gut, gemessen an Baileys Prinzipien, so doch zumindest mit Zivilcourage und Anpassungsfähigkeit. Er war schließlich der Präsident aller Amerikaner gewesen, auch jener, die konträre Ansichten vertraten.
Bailey konnte es kaum glauben, aber plötzlich wurden seine Augen feucht, und er schluckte schwer.
Und erst langsam, dann immer deutlicher dämmerte ihm die weltpolitische Tragweite dieser radikal veränderten Situation. Gestern wurde ein schweres Verbrechen begangen: Freischärler überfielen in der entmilitarisierten Zone einen hohen Funktionär der amerikanischen Regierung und verschleppten ihn nach einem Gemetzel als Geisel. Das war ein Banditenstreich, der im gesamten Nahen Osten und darüber hinaus in der ganzen Welt ernste Folgen haben würde. Aber heute wurde die Bedeutung dieses kriminellen Aktes und die daraus resultierende Gefahr mit einem Schlag potenziert! Heute herrschte der Wahnsinn. Der Präsident der Vereinigten Staaten als Gefangener einer Bande politischer Mörder!
Jason Seidel war der erste, der reagierte. »Sie müssen den Präsidenten unverzüglich freilassen, Oberst Leč.«
Der Albaner musterte ihn verwundert. »Sie enttäuschen mich, Colonel Seidel«, sagte er ätzend. »Vom Stabschef des amerikanischen Kontingents auf Sinai hätte ich eine klügere Antwort erwartet. Soviel ich hörte, sind Sie ein erfahrener Jurist.«
»Sie haben gestern verbrecherisch – und sehr gefährlich gehandelt. Aber wenn Sie uns soeben die Wahrheit gesagt haben, dann stehen wir heute vor einer unermesslichen Gefahr. In einem Spiel gegen mächtige Gegner kann man auch zu viele Trumpfkarten in der Hand haben. Und wenn
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