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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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eine Dreiviertelstunde dazu, seine Raketen aufzutanken. Und gerade diese fünfundvierzig Minuten konnten im Fall eines Erstschlags zur kritischen Phase werden.
    Krasnow blickte sich in seiner Kommandozentrale um. Obwohl alle Schaltpulte und Geräte voll bemannt waren, herrschte in dem großen Raum eine erstaunliche Stille. Kein Gesicht, das nicht blaß war und die innere Anspannung widerspiegelte. Der General fragte sich, wie viele dieser Menschen einfach Angst hatten und trotz der tonnenschweren Decke aus Stahl und Beton über ihren Köpfen mit der eigenen Vernichtung rechneten. Dann wies er solche Gedanken von sich; es war besser, nichts von den Ängsten der anderen zu wissen. Er wollte auch nicht an seine Frau und seine Tochter denken, die beide ahnungslos am Schwarzen Meer Ferien machten. Oder an seinen Sohn, einen an der sowjetisch-chinesischen Amur-Grenze stationierten Luftwaffenhauptmann. Und am wenigsten wollte er daran denken, dass seine persönlichen Erinnerungen – Frühling in Leningrad, winterliche Ballettabende in Moskau, die Schönheit ukrainischer Sommer – vor dem nächsten Sonnenaufgang in einem gigantischen Feuersturm verlodern konnten.
    In Clysma, an den glitzernden, sonnenbeschienenen Fluten des Suezkanals, erstattete General Anwar Suweif dem cholerischen Kommandeur der ägyptischen Einheiten der Friedenstruppe, General Ibrahim Hassani, Bericht.
    Suweif war von seiner russischen Eskorte auf dem schnellsten Weg aus der Zentralen Zone gebracht worden, mit besonderen Weisungen von Anatolij Igorewitsch Rostow, dem Kommandeur dringend nahe zu legen, alle bekannten arabischen Guerillas, die im ägyptischen Sektor der Halbinsel operierten, ohne Gnade und Aufschub zu fassen.
    Clysma war nicht wieder zu erkennen; Verwirrung und ängstliche Bestürzung hatten die schläfrige Routine des Stützpunkts in ein wüstes Durcheinander von Mensch und Gerät verwandelt.
    General Hassani war in Panikstimmung. »Was stellen sich Rostow und Ulanin eigentlich vor?« rief er. »Glauben die Sowjets, wir können unsere Zeit mit der Jagd auf Guerillas vergeuden? Die Israelis mobilisieren entlang der gesamten Grenze! Dieser schreckliche Zwischenfall mit dem amerikanischen Vizepräsidenten hat das Zypernabkommen völlig illusorisch gemacht. Die Juden bereiten einen ihrer berüchtigten Präventivschläge vor.«
    »Wissen Sie das so genau, Hassani?«
    »Zum Glück funktioniert unser Geheimdienst gut. So sind wir wenigstens gewarnt.«
    »Aber um uns anzugreifen, müßten die Israelis nicht nur den amerikanischen und den sowjetischen Sektor, sondern auch die Zentrale Zone durchqueren«, wandte Suweif ein. »Ich komme gerade von dort. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür. Die Amerikaner sind äußerst aufgebracht und mißtrauisch, doch von israelischen Truppenbewegungen ist keine Rede. Wenn wir unseren guten Willen zeigen und die Guerillas ausschalten, die unseren Sektor unsicher machen, tun wir zumindest etwas Positives für die Erhaltung des Friedens.«
    »Frieden? Den gibt es nicht, Suweif«, schnaubte General Hassani. »Ausgeschlossen. Ein israelisches Kanonenboot wurde kaum zwei Kilometer vor Port Said gesichtet! Morgen früh haben wir Krieg – und bis zum Abend lebt keiner mehr von uns.«
    Voll Bitterkeit dachte Suweif an die Abu Mussa. Viele Jahre lang waren sie die Helden der arabischen Welt. Wir alle sind schuld, dachte er. Welch tiefe Wahrheit lag doch in den Worten des Korans: Wenn Gott die Menschen so strafte, wie sie es verdienten, würde die Erde entvölkert sein.
    Er verließ den verstörten Hassani und trat ins Freie. Hinter den Staubwolken, die von den erregt umherlaufenden Soldaten aufgewirbelt wurden, sah er die Sanddünen der Sinai-Küste. Er spürte den Geruch der heimatlichen Erde, spürte die Sonne auf seinem Gesicht. Unermessliche Traurigkeit erfasste ihn. Vom Bewußtsein seiner eigenen Machtlosigkeit erfüllt, ging er langsam zu seinem wartenden Fahrzeug zurück.
    In der Fotoauswertungssektion des Kontrollzentrums für das Samos-Midas-Satellitensystem betrachtete ein Major der US Air Force die neuesten Aufnahmen der Stadtregion Moskau. Staunend sagte er zu seiner Luftwaffenhelferin: »Lieutenant, sehen Sie sich das an!«
    Das Mädchen in der blaugrauen Uniform trat zum beleuchteten Fototisch, auf dem die gestochen scharfen Satellitenbilder lagen. Ganz deutlich sah sie die ringförmig um das Stadtzentrum angeordneten Hauptstraßen, die Schiffe auf dem gewundenen Lauf der Moskwa und das Netz radial

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