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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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Marineministerium, die GRU- und die KGB-Zentrale Funkmeldungen vom Raketenzerstörer ›Allende‹ erhalten. Der Leitungsausschuß des Politbüros war zu einer Sondersitzung einberufen und der Ministerpräsident persönlich benachrichtigt worden. Er war bereits von seiner Datscha in Puschkino aufgebrochen und auf dem Weg nach Moskau.
    Noch während die Fotos aus dem Kopierwerk kamen, drängte man die Techniker zur Seite, und zorniges Stimmengewirr erfüllte den streng bewachten Raum. Die Bilder waren von ausgezeichneter Qualität. Die Kameras der Kosmos 623 konnten Details von nur sechzig Zentimeter Größe aus fünfhundertachtzig Kilometer Höhe einwandfrei wiedergeben, und die Bilder von den Gewässern vor Sinai ließen die Deltaflügel des Shrike-Düsenflugzeugs, das unmittelbar vor dem Kurs der ›Allende‹ schwebte, mit großer Deutlichkeit erkennen. Auf einer der Aufnahmen waren die ins Meer fallenden Schutzklappen und die freigelegten Sprengköpfe der Raketen zu sehen, die über die Flügelkante hinausragten.
    Die den Fototisch Umstehenden waren verschiedener Meinungen. Einige Offiziere der niedrigen Dienstgrade waren ganz einfach empört, dass ein Schiff der Sowjetflotte, mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten an Bord, in so frecher Weise auf offener See zum Abdrehen gezwungen worden war. Bei anderen überwog die Freude darüber, dass die Sowjettechnologie unwiderlegbare Beweise für einen amerikanischen Verstoß geliefert hatte. Und wieder andere, unter ihnen ein gewisser Oberstleutnant Michail Sergejewitsch Gukowski vom GRU, beschäftigten sich mit der Sache auf eine weniger freimütige Weise.
    Gukowski war Verbindungsoffizier der Roten Armee in der Abteilung D des KGB, des Staatssicherheitsdienstes. Abteilung D war inoffiziell unter der Bezeichnung ›Desinform‹ bekannt, eine Abkürzung für ›Gegeninformationsdienst‹. In der Zeit des Kalten Krieges lieferte es falsche und irreführende Informationen, mit dem Ziel, den Glawni Wrag, den ›Hauptfeind‹, mit anderen Worten die USA, zu diskreditieren. Das Einsetzen der Entspannung brachte Desinform neue Aufgaben: Es belieferte die Amerikaner mit jenen sorgfältig ausgewählten Informationen, die GRU und KGB den Vereinigten Staaten zugänglich zu machen wünschten, ohne jedoch ihr Wissen offiziell mit einem Land teilen zu wollen, das letzten Endes immer noch der Glawni Wrag war.
    Desinform bediente sich einer verhältnismäßig einfachen Methode, um sein Ziel zu erreichen: Informationen wurden in jene Kanäle gelenkt, durch die das Material mit Sicherheit in die Hände der vorgesehenen Empfänger gelangte. Wo es sich um das übliche ›Kosmos‹-Material handelte – das der GRU dem amerikanischen Nachrichtendienst in die Hände zu spielen wünschte, um Washington von der Wirksamkeit des sowjetischen Luftraumüberwachungssystems zu überzeugen –, wurden die Bilder regelmäßig einem Photoauswerter namens Kamenew übergeben. Dieser, ein Feldwebel der Roten Armee, verkaufte sie mit Billigung seiner Vorgesetzten an die Agenten des Mosa'ad, des israelischen Nachrichtendienstes. Kamenew war übrigens der Überzeugung, seine Kunden seien Tschechen.
    Kamenew erhielt die jeweils dritten Kopien aller Kosmos-Satellitenbilder der Sinai-Halbinsel und übergab sie dann seinem ›tschechischen‹ Kontaktmann, der sie seinerseits einem ›sicheren Kanal‹ anvertraute, durch den sie mit bemerkenswerter Geschwindigkeit quer durch das südwestliche Russland nach Persien und von dort nach Jerusalem gelangten. Oberstleutnant Gukowski hegte keinen Zweifel daran, dass sie wenig später dem CIA ausgehändigt wurden. Der CIA wußte sehr wohl, dass es sich um ›zahme‹ Informationen handelte, die ihm zugespielt werden sollten – ganz so wie ähnliches Material in andere Kanäle floß, die in die entgegengesetzte Richtung führten. Auf diese Weise wurde der Glawni Wrag immer wieder auf das Ausmaß und die technische Perfektion des sowjetischen Luftüberwachungssystems hingewiesen.
    Die von Kosmos 623 gelieferten Fotos waren keine dritten Kopien und wären unter normalen Umständen nicht an Kamenew weitergegeben worden. Dass aber die Bildfolge von der Nordküste der Sinai-Halbinsel den Shrike des amerikanischen Kontingents in einer kompromittierenden Situation zeigte, war Grund genug, um sie unverzüglich in den bewussten Kanal fließen zu lassen. In seiner Hast prüfte Oberstleutnant Gukowski jedoch nicht alle Bilder mit der nötigen Sorgfalt – insbesondere

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