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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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und alle seine kleinen Eitelkeiten kannte.
    Der Präsident legte seine Brille ab und rieb sich die Augen. Wieder blickte er auf die Landschaft hinab, die, vom Wind blankgefegt, durch kristallklare Luft in allen Einzelheiten zu erkennen unter ihm lag. »Es ist ein herrliches Land«, meinte er nachdenklich. »Wir vergessen das manchmal. Habe ich recht?«
    »Ja, Mr. President.«
    Die Sekretärin beobachtete ihn und wurde sich, wie schon oft, der nahezu sinnlichen Liebe zu Amerika bewußt, die so sehr ein Teil seiner Persönlichkeit war. Es war diese Hingabe, dachte sie, die einen so überzeugenden Politiker aus ihm machte. Andere mochten brillanter sein – Talcott Bailey, zum Beispiel; andere besaßen mehr Sendungsbewusstsein. Doch die zärtliche Liebe, die der Präsident für sein Land empfand, war eine Brücke zwischen ihm und seinen Wählern. Irgendwie wußten sie, dass er, in einer Zeit, da Zyniker die Liebe zur Heimat verniedlichten und herabsetzten, jenes Heimatgefühl verkörperte, das auch sie erahnten, aber nicht in Worte zu fassen verstanden. Und diese so völlig aufrichtige Haltung brachte selbst in ihr, einer in allen politischen Winkelzügen erfahrenen Frau, verborgene Saiten zum Erklingen.
    Der Präsident wandte den Blick vom Fenster ab und richtete ihn auf die Stirnwand, wo eine Anzahl von Weltzeit-Chronometern angebracht war. Auf dem mit ›Pazifische Zeit‹ bezeichneten Instrument war es sieben Uhr dreißig. Hier war eben erst die Sonne aufgegangen … Air Force One war ihr über den ganzen Kontinent hin nachgejagt; die Sonne war nur wenig schneller gewesen. In Washington mit seinem nebelerfüllten, deprimierend grauen Himmel war es jetzt halb elf. Er dachte an Talc Bailey. Es war siebzehn Uhr dreißig im Nahen Osten, und der Vizepräsident mußte in Kürze auf dem UN-Stützpunkt in der Zentralen Zone eintreffen. Viel Glück, Richter Seidel, dachte der Präsident, jetzt wissen Sie, worum es geht. Eine gute Gelegenheit, aus nächster Nähe zu beobachten, wie Ihr möglicher Rivale sich hält und wie er mit den Russen fertig wird. Denn das gehört zur Schulung eines zukünftigen Präsidenten – wer immer es auch sein mag.
    Niedergeschlagenheit überkam ihn, als er an die Krankheit dachte, die die ganze Zeit über sein Leben zerstörte – sein Leben und alles, was er den Vereinigten Staaten noch geben konnte.
    »Machen wir weiter, Mr. President?« fragte die Sekretärin.
    »Ja. Ja, bitte, Helen.«
    Und obwohl sie sah, dass der Chef nicht bei der Sache war, las sie ihm weiter aus den Berichten vor. Es war ihr eine willkommene Ablenkung, denn während sich die Air Force One dem San-Jacinto-Tal näherte, nahmen die Turbulenzen zu – und nur unter der Folter hätte sie gestanden, dass ihr Magen nicht so kräftig war wie der des Präsidenten.
    Im Cockpit der Air Force One klopfte Colonel Dayton Major Campbell auf die Schulter und deutete ihm damit an, dass er, Dayton, jetzt vom linken Sitz aus die Maschine steuern würde. Wingate, der sich nach seiner Rückkehr aus der Präsidentenkabine auf den Platz des Kopiloten begeben hatte, nahm eine kleine Veränderung an der Einstellung des Autopiloten vor – er reduzierte die Sinkgeschwindigkeit aus der Reiseflughöhe – und half Campbell aus den hinderlichen Gurten.
    Dayton nahm den Platz des Majors ein und überprüfte schnell die Instrumente. Alles funktionierte perfekt: Thermometer und Druckmesser zeigten den vorgeschriebenen Sollstand. Nur der künstliche Horizont, auf die starken Turbulenzen ansprechend, oszillierte und vibrierte. Vor ihm lagen die rostbraunen Flanken des San Jacinto Peak; noch hatte die tiefstehende Sonne die leicht mit Schnee bedeckten Schluchten nicht berührt.
    »Rufen Sie Riverside Center und ersuchen Sie um einen langsameren Anflugkorridor«, wies Dayton Wingate an. »Ich möchte den Boss nicht beunruhigen. Wie sieht's hinten aus?«
    »Ein wenig Schwanzwackeln«, antwortete Wingate, »aber es scheint dem Präsidenten nichts auszumachen.«
    »Trotzdem wird er uns für einen ruhigen Flug dankbar sein«, meinte Dayton. Und er persönlich hatte auch nichts dagegen einzuwenden, denn ihm war nicht sehr wohl, er verspürte einen leisen Schmerz in der Brust. Ganz ohne Appetit hatte er dennoch gefrühstückt; das bedauerte er jetzt. Er fühlte sich beengt, so als ob er sich besonders anstrengen müßte, um normal zu atmen. In der Annahme, dass es sich um eine leichte Verdauungsstörung handelte, hatte er Gelusil genommen. Im

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