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35 - Sendador 02 - In den Kordilleren

35 - Sendador 02 - In den Kordilleren

Titel: 35 - Sendador 02 - In den Kordilleren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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jetzt versäumte, meine Pflicht zu tun. Es war noch Leben in ihm. Brachte ich ihn nach oben, so zeigten sich seine Verletzungen vielleicht nicht als tödlich, und wenn das nicht, so konnte er doch wenigstens für kurze Zeit zum Bewußtsein kommen und Raum zur Reue finden. Ließ ich ihn aber hängen, so mußte er in seinen Sünden sterben, und ich hatte das für immer auf meinem Gewissen.
    Freilich, wenn ich ihn losbekommen wollte, mußte ich mich in eine Gefahr begeben, vor welcher es mir graute. Schon der bloße Gedanke an das Wagnis wollte mich schwindeln machen. Ich mußte nämlich meinen Sitz verlassen und in die Spalte steigen. Es war die Frage, ob der alte, verwitterte Baumstumpf mich mithalten werde. Wegen der Enge des Risses konnte ich nur mit querem Körper hinein; dann hatte ich den Abgrund vor Augen, in welchen hinabzublicken, von diesem Standpunkt aus, so gefährlich war. Doch ich war nun einmal da, und es mußte gewagt werden.
    Zunächst untersuchte ich, in welcher Weise der Sendador festhing. Der Aststumpf hatte hinter den Gürtel gefaßt, denselben infolge des Gewichtes hoch emporgezogen und auch den Rücken der Jacke und Weste mitergriffen. Ob und wie weit er auch in das Fleisch eingedrungen war, das konnte ich nicht sehen. Die straff angezogenen Kleidungsstücke preßten dem Sendador die Brust zusammen und hinderten ihn am Atmen. Mir schien, daß mehr dieser Umstand als eine Verwundung durch den Ast die Ursache seiner Besinnungslosigkeit sei.
    An zwei Lassoseilen hing ich selbst; das dritte schlang ich ihm jetzt unter den Armen hindurch um Rücken und Brust und verknotete es in der Weise, daß die Atmungswerkzeuge möglichst freiblieben. Dann schnitt ich ihm mit dem Messer die Jacke und die Weste auf. Beide waren so fest angespannt, daß von einem Ausknöpfen keine Rede sein konnte. Jetzt bekam er Luft. Ich hörte ihn atmen, aber kurz und hastig – ein Schrei, ein entsetzlicher Schrei; er riß die Augen auf, starrte mich an und brüllte wieder, und zwar in einer Weise, als ob er am Spieß stecke.
    „Still!“ rief ich ihm zu. „Haben Sie Schmerzen?“
    „Unbeschreibliche!“ antwortete er, nun förmlich heulend.
    „Kennen Sie mich?“
    Sein Geheul verstummte für einige Augenblicke. Er biß die Zähne zusammen und stierte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen an, daß es mir unheimlich wurde.
    „Der Deutsche, der Deutsche!“ brüllte er dann. Und als sein Blick in die Tiefe fiel und ihm die Erkenntnis seiner Lage kam, zeterte er:
    „Ich hänge am Felsen; ich hänge mit dem Fleisch am Felsen! Da unten gähnt der Abgrund, die Hölle, das Fegefeuer, die Verdammnis! Machen Sie mich los, schnell, schnell; ich will alles gestehen, alles! Nur nicht da hinunter, da hinunter!“
    „So verhalten Sie sich ruhig; rühren Sie sich nicht! Verbeißen Sie Ihre Schmerzen, und schreien Sie nicht!“
    Sein Gebrüll ging in ein Wimmern über, welches mehr einem Pfeifen glich und mir durch Mark und Bein dringen wollte. Ich band den Riemen los, welcher mich an meinem Sitz festhielt, schlang ihn um eins der Seile, welche den letzteren trugen, und befestigte ihn mir dann an den Arm, sodaß ich den Sitz nicht verlieren konnte. Dann hielt ich mich an den beiden Seilen fest, stieg auf die Lanzen, auf denen ich gesessen habe und – Herr Gott, dir übergebe ich mich! – schwang mich in den Spalt.
    An diesem Augenblick hing mein Leben. Gab der Baumstumpf nach, so fuhr ich mit ihm und dem Sendador in die Tiefe. Es wirbelte mir im Kopf; es flimmerte mir vor den Augen, und es summte mir vor den Ohren, als ob ich mich inmitten eines Bienenschwarms befände. Ergriff mich der Schwindel, so war es aus mit mir. Ich nahm alle meine Willenskraft zusammen. Mein Auge, mein Kopf wurde frei; ich mußte die Angst, die Furcht überwinden und schaute in die Tiefe hinab. Es war, als wolle es mich um und um drehen und hinabziehen; aber ich überwand den Anfall. Drunten lag die Lagune; ich sah die Salzkruste auf derselben glänzen; dort drüben, rechts, wo wir hergekommen waren, standen zwei Menschen, Indianer; ich sah sie deutlich. Es waren wohl die freigegebenen oder entflohenen Wächter; sie verschwanden schnell hinter den Felsen.
    Unter meinen Füßen raschelte und bröckelte es; der Schutt, der mürbe Müll, gab nach; aber die Wurzeln des Baumstumpfes hielten fest. Mit der Linken mich in der Felsenritze festhaltend, bog ich mich nieder, ergriff mit der Rechten den Sendador beim Kragen – ein Ruck, noch einer; er kam von dem

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