35 - Sendador 02 - In den Kordilleren
Todes sterben lassen, wenn es mir möglich ist, ihn vor demselben zu bewahren. Hat keiner von Euch den Mut, so werde ich mich selbst hinablassen.“
„Sie selbst? Sind Sie denn ganz und gar toll? Das ist das allerdümmste, was Sie im Leben machen können. Wir können Sie nicht missen; wir brauchen gerade Sie am allernötigsten bei uns; wollen gerade Sie es sein, der den Hals brechen soll, eines Menschen wegen, welcher den Galgen zehn und noch mehr Mal verdient hat!“
„Streiten wir uns nicht! Ich bin entschlossen, und sie werden mir helfen. Nur Lassos und Riemen her!“
„Die nützen nichts; sie zerreißen; sie zerreiben sich an den scharfen Kanten des Felsens, da sind Rollen nötig, welche wir nicht haben.“
„Wir legen einen Sattel unter, über welchem der Lasso glatt und ohne zu große Reibung läuft.“
„Aber wie wollen Sie es anfangen? Sie wissen ja gar nicht, in welcher Verfassung Sie den Menschen finden!“
So wie Pena, machten auch die anderen den Versuch, mich von meinem Vorhaben abzubringen, natürlich vergeblich. Nur der Bruder bestärkte mich in demselben, als er einsah, daß ich fest entschlossen war.
Wir fertigten aus den vorhandenen Lassos drei Lederseile, von denen jedes die gebrauchte Länge hatte. Die Knoten machte ich selbst; da es sich um mein Leben handelte, wollte ich auch selbst die Verbindung auf ihre Sicherheit prüfen.
Dann wurden mehrere Lanzen zusammengebunden, welche mir als Sitz zu dienen hatten, und an die Enden zweier Seile befestigt. Diese Seile liefen jedes über einen Sattel, welcher die Reibung an der Felsenkante unmöglich machen sollte. Das dritte Seil war als Reserve zu verwenden, da ich nicht wußte, ob ich den Verunglückten zu mir nehmen konnte oder nicht. Natürlich war die Vorkehrung so eingerichtet, daß ich, senkrecht von oben kommend, auf den Sendador treffen mußte.
Nun wurde der Sitz an den beiden Seilen über die Kante gelassen und ich mußte einsteigen. Aufrichtig gestanden, war es mir ganz und gar nicht wohl zumute, als ich mich über den scharfen Felsen schwang und auf drei dünnen Spießen Platz nahm. Dort band ich mich mit einem Riemen fest.
Der gute Bruder hatte nach mir das Schwierigste übernommen. Er hatte sich so gelegt, daß er mir mit den Augen folgen konnte; er wollte meine Winke denen verdolmetschen, welche mich hinab- und dann wieder hinaufzulassen hatten.
Gut war es, daß der Felsen keine Krümmung hatte, sondern wie eine künstlich errichtete Mauer genau senkrecht abfiel. Das erleichterte uns die Passage ungeheuer.
Man ließ mich nur langsam nieder. Obgleich ich selbst dies befohlen hatte, dünkte es mich eine Ewigkeit zu sein, bevor ich zu dem Verunglückten gelangte. Ja, es war der Sendador. Er bot einen schrecklichen Anblick. Seine mit Blut unterlaufenen Augen standen weit hervor; aus dem geöffneten Mund hing die lechzende Zunge. Ein schwaches Röcheln ertönte; sonst gab es vom Leben weiter keine Spur.
Natürlich winkte ich nach oben, anzuhalten. Ich mußte zunächst untersuchen, wodurch der Mann hier festgehalten worden war. Es gab da eine spaltartige Vertiefung, ungefähr anderthalb Fuß breit, welche, nach unten immer enger werdend, mit verwestem und verwittertem Müll angefüllt war. Da hatte ein Baum Nahrung gefunden und seine Wurzeln tief in die Spalte geschlagen. Ein Orkan mochte die Krone abgebrochen und mit der Hälfte des Stammes davongeführt haben. Die andere Hälfte war stehengeblieben, weil sie nicht, wie der obere Teil, aus dem Spalt hervorragte. Auch die Äste waren verschwunden; aber als Rest des untersten, in der Nähe des Wurzelhalses aus dem Stamm getreten, ragte ein spitzer Stumpf hervor, welcher den Sendador aufgefangen und festgehalten hatte.
Ich hing vor ihm, über der grausigen Tiefe. Bei der geringsten Bewegung, welche ich machte, schaukelte mein leichter Sitz hin und her. Das machte es außerordentlich schwierig, den Verunglückten vom Stumpf zu lösen. Wollte ich ihn loshaben, so mußte ich ihn heben. Das erforderte bei der Schwere des Mannes eine Kraftanstrengung, unter welcher die Riemen, an denen ich hing, leicht zerreißen konnten, und dann war ich verloren.
Wenn ich aufrichtig sein will, so muß ich gestehen, daß mir der Gedanke kam, ihn seinem Schicksal zu überlassen; aber die Regung der Schwäche währte nicht lange. Sein Anblick war ein entsetzlicher. Ich sagte mir, daß ich denselben während meines ganzen Lebens vor mir haben und mir die schwersten Vorwürfe machen würde, falls ich
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