35 - Sendador 02 - In den Kordilleren
befinde, dessen Tür uns nicht sichtbar gewesen war.
Unica schritt mit der Sicherheit der Gewohnheit über den Ast hinüber, faltete drüben den Saum ihres Gewandes fest zusammen und turnte sich mit großer Gewandtheit von Ast zu Ast bis zum Erdboden hinab, wo sie sich sofort entfernte, ohne auf uns zu warten. Als auch wir unten angekommen waren, sagte der Alte: „Das Dorf besichtigen wir zuletzt. Jetzt will ich Sie zunächst nach dem See führen.“
Wir kamen an die Stelle, wo ich vorher mit Pena am Wasser gestanden hatte, um die Lagune zu überblicken. Von da aus gingen wir nach links weiter, immer am Ufer hin. Der Wald reichte überall bis an das Wasser, so daß wir uns unausgesetzt unter seinem Laubdach befanden. Nach einiger Zeit lag das Ufer plötzlich in einem fast rechten Winkel links ab und kehrte in einem weiten Bogen nach seiner vorherigen Richtung zurück. Dadurch bildete die Lagune einen Busen, in welchem eine ziemlich große Insel lag, die wir, als wir nach unserer Ankunft das Wasser erreichten, für Uferland gehalten hatten. Auch sie war mit Bäumen bestanden. Hinter ihr folgten noch mehrere, aber kleinere Inseln, welche näher am Ufer lagen als die erstere.
Unser Weg wurde jetzt schmal und bildete einen kurzen, brückenartigen Bogen, bei welchem linker Hand der Boden plötzlich abwärts stieg und eine Senkung bildete, die sich fernhin zwischen den Bäumen hindurch weiterzog.
„Das ist der Graben“, erklärte der Alte, „und wir stehen auf dem verdeckten Kanal, durch den er aus der Lagune gespeist wird. Später werden sie das besser sehen.“
Wir waren noch nicht viel weiter gekommen, als die Bäume auseinander traten, und wir nun einen weiten Platz vor uns liegen sahen, auf welchem zahlreiche, verschieden gestaltete Hütten standen, zwischen denen sich regsame Menschen bewegten. Eben jetzt war von dorther der Klang einer Trommel zu hören.
„Das ist das Dorf“, erklärte der Alte.
„Und warum trommelt man?“ fragte ich.
„Der Befehl dazu wurde jedenfalls von Unica gegeben. Sie versammelt die Leute, um ihnen mitzuteilen, daß sie überfallen werden sollen. Bei dieser Gelegenheit wird sie auch Ihre Anwesenheit erwähnen, und Sie werden sich eines höchst feierlichen Empfangs zu erfreuen haben.“
Bei diesen Worten ging ein leichtes, halb spöttisches und halb zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Dann fuhr er fort:
„Jetzt fahren wir nach der Insel. Die müssen Sie sehen.“
Es lagen mehrere größere und kleinere Boote am Ufer. Wir sprangen in eines der letzteren. Pena und ich griffen zu den Rudern und hielten auf die Insel zu, welche vielleicht fünf Minuten lang und halb so breit war. Wir sahen weder Menschen noch Tiere auf derselben. Am Ostrand standen schattige Bäume. Wo dieselben aufhörten, begannen Felder, welche von den Erfolgen des viejo Desierto zeugten. Dieser führte uns nach den Bäumen. Dort erblickten wir, unter den hohen Wipfeln derselben liegend, ein Gebäude, welches aus Ziegeln errichtet und mit Schilf gedeckt war. Aus seinem First stieg ein Kreuz empor, und über der Tür waren in dunklen Buchstaben auf Kalkgrund die Worte Soli Deo Gloria zu lesen.
„Die Kirche“, erklärte der Alte.
„Wer ist der Priester?“ fragte ich.
„Wir haben natürlich keinen“, antwortete er. „Die Gemeinde versammelt sich hier, und ich übersetze ein Evangelium oder eine Epistel und lese aus der Postille eine Erklärung. Der gute Wille ist für die Tat zu nehmen.“
Er zeigte uns die kleinen Felder, welche besser Gärten zu nennen waren; dann fuhren wir nach der nächsten Insel. Dort und auf der anderen weideten Pferde und Rinder.
„Pferde im Chaco sind selten“, sagte er. „Sie gehen auch leicht an der Moskitoplage zu Grund. Wir wohnen aber in einer Gegend, wo es viel offenes Land, Sand- oder Grasflächen gibt, und da sind Pferde von großem Nutzen. Die Tiere geben meinen Leuten eine bedeutende Überlegenheit gegen die anderen roten Stämme.“
Nun kehrten wir an das Ufer zurück und schritten dem Dorf zu. Als wir aus dem Boot stiegen, hatte ich einen kleinen, rotbraunen Buben gar nicht beachtet, welcher dort gestanden hatte. Jetzt rannte er, was die Beine nur hergaben, dem Dorf zu und schrie dabei auf eine so entsetzliche Weise, daß es mir bang um das Kerlchen wurde.
„Was hat der Kleine?“ fragte ich. „Hat er solche Angst vor mir?“
„O nein“, antwortete der Desierto. „Er ist der Posten, welcher ausgesandt wurde, Ihre Ankunft der Festungskommandantin
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