36 - Das Vermächtnis des Inka
zu verschwinden. Die Fragen Antons hatten ihn an seiner wunden Stelle getroffen. Er kehrte erst zurück, als es zu dunkeln begann, und streckte sich, als man sich zur Ruhe legte, wie gewöhnlich neben Anton nieder. Dieser hatte lange darüber nachgedacht, womit er den Freund betrübt haben könne, und schlief darüber ein. Wie lange er geschlafen hatte, wußte er nicht, als er von einer Hand, die ihn leise schüttelte, aufgeweckt wurde. Der Inka war es; er flüsterte ihm ins Ohr: „Still! Sprich nicht so laut! Du hast gewünscht, ein Held wie der Vater Jaguar zu sein. Ich möchte dir Gelegenheit zu einer Tat geben. Willst du mir folgen?“
„Wohin?“
„Davon nachher. Laß deine Waffen hier und nimm nur das Messer und die Bolas mit! Schleich tief im Gras hinter mir, damit die Wächter uns nicht sehen!“
Anton sah, daß Hauka auf allen vieren von der Lagerstätte fortkroch, und folgte ihm in derselben Weise. In den letzten Nächten hatten die Sterne geschienen; heute aber war der Himmel dunkel. Da der Neumond kurz vorüber war, herrschte hier unten eine fast vollständige Finsternis. Man konnte kaum zehn Schritt weit sehen, und selbst der See, welcher am Tage so rein und hell geglänzt hatte, lag jetzt wie ein düsteres Geheimnis zu ihrer linken Hand. Sie schlichen langsam und unhörbar am Schilfrand hin, bis Hauka sich aufrichtete und, mit noch immer leiser Stimme, sagte: „Jetzt sind wir über die Wachen hinaus und können richtig gehen. Ich weiß, du hast Mut und wirst dich freuen, daß ich dich geweckt habe. Schau einmal scharf über den See. Siehst du etwas?“
„Nein“, antwortete Anton, welcher seine Augen vergeblich anstrengte.
„Oder riechst du etwas?“
„Auch nicht.“
„Anciano und ich, wir leben mit dem Kondor in den Kordilleren; darum haben wir die Sinne des Alters erhalten. Da drüben jenseits des Wassers lagern Leute.“
„Wie kannst du das wissen?“
„Ich rieche den Rauch und sehe den Schein des Feuers. Ein Weißer sieht und riecht das nicht. Eigentlich sollte ich es den Erfahrenen melden, aber weil du wünschtest, eine Tat zu tun, so habe ich sie nicht geweckt und es auch unterlassen, den Wächtern Meldung zu machen.“
„Und was willst du jetzt tun?“ fragte der deutsche Peruaner.
„Zunächst will ich hinüber, um zu sehen, wer diese Leute sind und was sie hierhergeführt hat. Dann wird es sich zeigen, ob ich still zurückkehre oder mich von den Umständen zu irgendeiner Handlung bewegen lasse.“
„Meinst du, daß dir dieses letztere erlaubt wäre? Wie leicht könntest du etwas tun, was der Vater Jaguar dann nicht billigen würde.“
Da legte ihm der Inka die Hand auf die Achsel und sagte in nachdrücklichem Ton: „Ich bin hier im Lande geboren und kenne es genau. Du brauchst keine Sorge zu haben, daß ich etwas Unrechtes tun werde. Gehst du mit, oder willst du hier bleiben? In diesem letzteren Fall bleibe auch ich und melde dem Vater Jaguar, was ich beobachtet habe. Ich will ja nur hinüber, um dir Gelegenheit zu geben, zu beweisen, daß du ein mutiger Jüngling bist.“
„Natürlich gehe ich mit, ganz natürlich! Ich fragte nur so, weil ich glaubte, zu jung zu sein, um so selbständig handeln zu können.“
„So komm und gib mir deine Hand, damit ich dich führe, denn ich glaube, daß meine Augen in der Dunkelheit schärfer als die deinigen sind.“
Er nahm ihn bei der Hand und schritt mit ihm langsam weiter. Das war nicht leicht, denn es ging zwischen Büschen und unter Bäumen hin. Dann hörte der Wald plötzlich auf, und das Ufer lag baumlos vor ihnen. Haukaropora blieb nachdenklich stehen, überlegte eine kleine Weile und sagte dann: „Da ist eine Lücke in dem Gürtel, welcher sich als Waldstreifen um das Wasser legt. Dieser Gürtel ist schmal. Gehen wir innerhalb desselben vorwärts, so befinden wir uns stets in der Finsternis, welche unter den Bäumen herrscht, was uns sehr aufhalten muß. Darum denke ich, es ist besser, wenn wir uns weiter rechts halten, um an dem Rand dieses Gürtels hinzugehen. Da können wir viel schneller laufen und haben den freien Himmel über uns, welcher zwar auch dunkel ist, aber doch nicht so finster wie die Wipfel der Bäume.“
„Aber werden wir da den Ort finden, wo die Leute sind, welche wir suchen?“ warf Anton Engelhardt bedenklich ein.
„Ganz gewiß!“
„Ich denke, wir kommen da viel zu weit nach rechts?“
„Nicht zu sehr, da der Wald ja nicht breit ist. Übrigens ist es sicher, daß diese Leute an der
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