4 - Wächter der Ewigkeit
hindurchzublicken. Dann seufzte er. »Der Golem ist tot. Beide Golems sind tot. Schade … Manchmal bin ich in die fünfte Schicht gegangen, um mit der Schlange zu spielen. Sie hat sich ebenfalls immer darauf gefreut.«
»Könnt ihr mich begleiten?«, fragte ich.
Merlin schüttelte den Kopf. »Einige von uns können die fünfte Schicht erreichen. Aber in die erste gelangen nur sehr wenige, und dort sind wir hilflos.«
»Ich komme nicht an ihnen vorbei«, sagte ich. »Und direkt … in die siebte Schicht – das schaffe ich nicht.«
Wir lächelten einander an.
»Jemand wird dir helfen«, versicherte Merlin. »Nur bitte ich dich, alles richtig zu machen.«
Ich nickte.
Ich wusste nicht, ob es mir gelingen würde. Ich konnte mich nur sehr bemühen.
Gleich darauf vibrierte die Luft um mich herum, als ergieße sich etwas ins Zwielicht, das vor Kraft barst. Welche Schichten … welche Entfernungen … Was hatte diese in der Erkenntnis des eigenen Selbst leuchtende Kraft zu bedeuten?
Nadjuschka lief durchs Gras. Fuchtelte mit den Armen, konnte das Gleichgewicht jedoch nicht halten und landete mit einem Blick auf mich auf dem Hintern.
»Steh auf«, sagte ich streng. »Es ist feucht.«
Nadja sprang auf, klopfte sich die Manchesterlatzhose ab und schnatterte los: »Erstens: Mama hat mir beigebracht, im Schatten zu gehen! Zweitens: Da kämpfen ein Affe und eine
Schlange miteinander und machen sich gegenseitig fertig! Drittens: Zwei Onkel und eine Tante gucken auf die Schlange und sagen sehr schlimme Wörter! Viertens: Mama hat mir gesagt, ich soll dich sofort zum Essen nach Hause holen!«
Sie stockte, als sie die Massen um sich herum sah. Verlegen senkte sie den Blick und brachte im Ton eines braven Mädchens hervor: »Guten Tag …«
»Guten Tag.« Merlin hockte sich vor sie hin. »Bist du Nadeshda?«
»Ja«, sagte Nadja stolz.
»Ich freue mich, dich zu sehen«, meinte Merlin. »Bring deinen Papa nach Hause. Nur geh nicht gleich nach Hause, sondern erst zurück, zu den Menschen. Dann bring ihn nach Hause.«
»Zurück – das heißt nach vorn?«, fragte Nadja nach.
»Richtig.«
»Du siehst aus wie ein Zauberer aus einem Zeichentrickfilm«, erklärte Nadja misstrauisch. Vorsichtshalber schmiegte sie sich an mich und griff nach meiner Hand, was ihr offenbar Sicherheit einflößte.
»Ich war auch einst ein Zauberer«, gab Merlin zu.
»Ein guter oder ein böser?«
»Mal so, mal so.« Er lächelte traurig. »Geh jetzt, Nadeshda.«
Mit einem ängstlichen Blick auf Merlin fragte mich Nadja: »Gehen wir, Paps?«
»Ja«, sagte ich.
Noch einmal drehte ich mich um, nickte den Anderen zu, die schweigend zu uns herübersahen. Voller Trauer und Hoffnung. Als Erste hob Tigerjunges die Hand zum Abschied. Dann Alissa. Schließlich winkten uns alle zu – um sich für immer von uns zu verabschieden.
Als meine Tochter, die frisch initiierte Absolute Zauberin, dann einen Schritt nach vorn machte, folgte ich ihr. Ich hielt mich an ihrer Hand fest, um mich nicht in jenem Kraftwirbel zu verlieren, der tosend seinen Kreis vollendete und nunmehr in unsere Welt zurückkehrte.
Denn natürlich kennt das Zwielicht keinen Anfang und kein Ende. So wie jeder Ring endlos ist.
Die Wärme der menschlichen Liebe und die Kälte des menschlichen Hasses, der Lauf der Tiere und der Flug der Vögel, das Flügelschlagen der Schmetterlinge und das die Erde durchbohrende, aus ihr heraussprießende Korn hinterlassen nämlich ihre Spuren. Der universelle Strom lebendiger Kraft, dessen Tropfen Parasiten wie das blaue Moos und Andere so gierig aufsaugen, verschwindet selbstverständlich nicht spurlos. Sondern kehrt in die Welt zurück, die ihrer Auferstehung harrt.
Denn wir alle leben in der siebten Schicht des Zwielichts.
Epilog
»Wie! Schön! Hier! Alles! Ist!«, schrie Nadja.
Ich nahm sie auf den Arm. Wir standen auf dem Kopfsteinpflaster von Edinburgh, umgeben von Hunderten und Tausenden von schlafenden Menschen. Heulende Sirenen kamen näher und näher. Die Zeit der Anderen endete.
»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Hier ist alles echt.«
»Aber alle schlafen«, warf Nadja traurig ein. »Wie in dem Märchen von Dornröschen. Sollen wir sie wecken?«
Sie würde das jetzt schaffen … Sie würde jetzt alles schaffen -wenn sie es lernte.
»Bist du gar nicht müde?«, fragte ich. Meine Knie zitterten, mir war leicht schwindlig.
»Wieso denn das?«, wunderte sich Nadja.
»Ein bisschen später«, versprach ich. »Ein bisschen später wecken wir
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