4 - Wächter der Ewigkeit
»kargen« Tisch heran. Eine halbe Stunde später traf Murat ein, bepackt mit zwei prallen Taschen, aus denen ein Teil des Inhalts sofort auf den Tisch wanderte. Den Rest trug Murat in die kleine Küche, die an den Hauptraum der Wache anschloss. Meine kulinarischen Kenntnisse reichten immerhin aus, um zu erkennen, dass jetzt Pilaw vorbereitet wurde.
Unterdessen tranken wir Kognak – der sich als unerwartet gut herausstellte – und aßen Obst. Valentina Iljinitschna überließ das Gespräch Nodir. Höflich hörte ich mir die Geschichte der usbekischen Wachen von den alten mythischen Zeiten bis zu Tamerlan und von Tamerlan bis in unsere Tage an. Zu behaupten, die Lichten hätten stets friedlich mit den Dunklen zusammengelebt, seien mit ihnen ein Herz und eine Seele gewesen, wäre gelogen. Es gab genug finstere, blutige und schreckliche Ereignisse. Insgesamt gewann ich den Eindruck, die Wachen in Usbekistan führten ihren Kampf nach mir völlig unbekannten Regeln. Menschen mochten einander bekämpfen und ermorden, während die Wachen höfliche Neutralität bewahren. Dafür schlugen die Lichten und Dunklen in der Ära Chruschtschows und den ersten Jahren der Regierungszeit Breschnews mit unvorstellbarer Grausamkeit aufeinander ein. In ebendieser Zeit starben drei Hohe Magier, zwei aus der Tag- und einer aus der Nachtwache. Zudem dünnte der Krieg die Reihen der Anderen ersten und zweiten Grades aus.
Dann beruhigte sich die Situation wieder, als habe die Stagnation der achtziger Jahre auch die Anderen erfasst. Seit dieser Zeit erschöpften sich die Beziehungen zwischen Dunklen und Lichten in einem kraftlosen Geplänkel, das eher auf der Ebene von Sticheleien und Frechheiten ausgetragen wurde, als echte Antipathien nach sich zog.
»Alischer hat das nicht gepasst«, bemerkte Timur. »Ist er immer noch in Moskau?«
Ich nickte, erfreut über den willkommenen Themenwechsel.
»Ja. Er arbeitet jetzt in unserer Wache.«
»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Nodir freundlich. »Wir haben gehört, er habe den vierten Grad erlangt.«
»Praktisch den dritten«, berichtete ich. »Aber das kann er euch selbst erzählen. Er ist mit mir zusammen eingetroffen, wollte jedoch zuerst noch alte Bekannte aufsuchen.«
Diese Neuigkeit nahmen die Wächter keinesfalls voller Freude auf. Sowohl Timur wie auch Nodir blickten zwar nicht bekümmert, aber doch verlegen drein. Valentina Iljinitschna schüttelte den Kopf.
»Anscheinend habe ich euch eine unangenehme Überraschung bereitet?«, wollte ich wissen. Die gemeinsam geleerte Flasche ließ mich ganz offen sprechen. »Könnt ihr mir erklären, was es damit auf sich hat? Warum habt ihr etwas gegen Alischer? Weil sein Vater ein Devona war?«
Die Wächter wechselten beredte Blicke.
»Es hat nichts damit zu tun, was sein Vater war«, ergriff Valentina Iljinitschna das Wort. »Alischer ist ein guter Junge. Aber er ist … sehr rigide.«
»Wirklich?«
»Vielleicht hat er sich in Moskau ja verändert«, warf Timur ein. »Aber Alischer wollte immer kämpfen. Er ist in der falschen Zeit geboren.«
Das ließ ich mir durch den Kopf gehen. O ja, bei uns in der Wache zog Alischer immer die Arbeit in den Straßen vor. Patrouillen, Auseinandersetzungen, Verhaftungen – bei allem war er dabei …
»Also … bei uns ist das irgendwie natürlicher«, meinte ich. »Moskau ist eine große Stadt, das Leben dort aggressiver. Aber Alischer sehnt sich ungeheuer nach seiner Heimat.«
»Wir freuen uns ja auch auf ihn, keine Frage!«, versicherte Valentina Iljinitschna. »Es ist so viel Zeit vergangen, seit wir Alischer das letzte Mal gesehen haben. Stimmt es nicht, Jungs?«
Die Jungs pflichteten ihr mit aufgesetztem Enthusiasmus bei. Sogar Murat rief aus der Küche herüber, er habe Alischer sehr vermisst.
»Kommt Afandi bald?«, fragte ich, um das unangenehme Thema zu beenden.
»In der Tat«, meinte Valentina Iljinitschna nervös. »Es ist schon kurz nach zwei …«
»Der ist längst da«, ließ sich Murat erneut aus der Küche vernehmen. »Er kehrt den Hof mit einem Besen, vom Fenster aus kann ich ihn sehen. Vermutlich hat er geglaubt, wir würden ihn bitten, den Pilaw zu kochen …«
Nodir eilte zur Tür. »Afandi!«, rief er. »Was machst du da?«
»Ich fege den Hof«, gab der fünfte Mitarbeiter der Samarkander Wache würdevoll Auskunft. Seiner Stimme nach zu urteilen, war er nicht nur vor dreihundert Jahren geboren worden, sondern auch sein Körper nicht mehr jung.
Nodir drehte sich zu uns
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