4 - Wächter der Ewigkeit
Tisch«, forderte Valentina Iljinitschna mich freundlich auf. »Warum hocken Sie da wie ein Fremder in der Ecke?«
Eigentlich saß ich nicht unbedingt in der Ecke. In der Ecke deckte Timur nämlich gerade den Tisch. Auf einem strahlenden Tischtuch, mit dem zwei Bürotische kurzerhand in einen gemeinsamen, großen verwandelt wurden, standen bereits Teller mit Obst: leuchtend rote und saftig grüne Äpfel, schwarze, grüne, gelbe und rote Weintrauben, riesige Granatäpfel, dazu noch eine sehr appetitlich aussehende Hausmacherwurst, in Scheiben geschnittenes Fleisch und heiße, mit Magie aufgebackene Fladenbrote. Mir fiel ein, wie Geser einmal in einem jener seltenen Momente der Nostalgie die Fladenbrote aus Samarkand gepriesen hatte, wie lecker sie seien und dass sie eine ganze Woche lang nicht hart würden, man brauchte sie bloß warm machen und dann … dann könnte man mit dem Essen gar nicht mehr aufhören … Damals hielt ich seine Worte für die typischen Erinnerungen eines Alten aus der Kategorie: Früher waren die Bäume größer, und die Wurst schmeckte besser. Inzwischen lief mir allerdings schon das Wasser im Mund zusammen, und mir kam der Verdacht, dass Geser nicht allzu stark übertrieben hatte.
Außerdem standen auf dem Tisch noch zwei Flaschen Kognak. Einheimischer – was mich sofort das Schlimmste befürchten ließ.
»Urteilen Sie nicht nach diesem kargen Tisch«, meinte Nodir ungerührt. »Gleich kommt unser Jüngster vom Basar zurück, dann können wir uns an einen richtigen Tisch setzen. Solange müssen wir uns mit diesen Häppchen begnügen.«
Einem reichhaltigen Festmahl mit tüchtig Alkohol – das wurde mir nun klar – würde ich also nicht entkommen. Allmählich argwöhnte ich zudem, dass nicht nur das verständliche Interesse am Schicksal seiner Schulfreundin Alischer von einem unverzüglichen Antrittsbesuch bei den Wächtern abgehalten hatte. Seit vielen Jahren dürfte hier kein Moskauer Gast aus der Führungsebene zu Besuch gewesen sein. Und Moskau blieb nun einmal für Samarkand ein höchst wichtiges Zentrum.
»Die Sache ist die, dass ich auf Gesers Bitte hin …«, setzte ich an.
Und entnahm ihren Gesichtern, dass ich fortan nicht nur hohes Ansehen genoss, sondern mein Status in schier undenkbare Höhen geschnellt war. Hinauf in den Kosmos, zu dem Andere keinen Zugang haben.
»Geser hat mich gebeten, einen Freund zu suchen«, fuhr ich fort. »Er lebt irgendwo in Usbekistan …«
Daraufhin senkte sich bedrückende Stille herab.
»Geht es um den Devona, Anton?«, fragte Valentina Iljinitschna. »Der ist nämlich nach Moskau gefahren … 1998. Und dort gestorben. Wir haben angenommen, Geser wisse darüber Bescheid.«
»Nein, nein, ich meine nicht den Devona!«, widersprach ich. »Geser hat mich gebeten, Rustam zu suchen.«
Die jungen Usbeken guckten einander an.
»Rustam …« Valentina Iljinitschna runzelte die Stirn. »Irgendwas habe ich über ihn gehört …«, meinte sie zögerlich. »Doch das ist … eine sehr alte Geschichte. Eine uralte. Die ist Jahrtausende alt, Anton.«
»Er arbeitet nicht in der Wache«, bestätigte ich. »Und natürlich ist das nicht sein richtiger Name. Meiner Ansicht hat er seinen Namen schon mehr als einmal gewechselt. Ich weiß nur, dass er ein Hoher Lichter Magier ist.«
Nodir strich sich die störrischen schwarzen Haare glatt. »Das ist sehr schwierig, Anton-aka«, stellte er klar. »Bei uns in Usbekistan gibt es einen Hohen Magier. Er arbeitet in Taschkent. Aber er ist noch jung. Wenn ein alter und starker Magier untertauchen möchte, dann schafft er das auch. Deshalb braucht man nicht nur einen starken Anderen, um ihn zu finden. Man braucht einen weisen. Geser selbst musste ihn suchen. Ketschi-rassis, Anton-aka, tut mir leid. Wir können dir nicht helfen.«
»Wir könnten Afandi fragen«, meinte Valentina Iljinitschna nachdenklich. »Er ist ein schwacher Magier und etwas … etwas begriffsstutzig. Aber er hat ein gutes Gedächtnis und lebt schon mehr als dreihundert Jahre auf dieser Welt …«
»Afandi?«, hakte ich nach.
»Das ist unser fünfter Mitarbeiter.« Valentina Iljinitschna geriet kurz in Verlegenheit. »Na ja, siebter Grad, das sagt wohl alles. Er … ist eher ein Hausmeister. Aber vielleicht kann er trotzdem helfen?«
»Ich bin mir dessen fast sicher.« Mich an Nadjuschkas Worte erinnernd, nickte ich. »Wo ist er denn?«
»Er müsste gleich da sein.«
Nun gab es kein Entkommen mehr. Mit einem Nicken trat ich an den
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