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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gesteckt, und da er zwischen dieser Blume und meinem damaligen Wesen Ähnlichkeit zu entdecken schien, so hatte ich die zweifelhafte Ehre, von ihm als ‚wilde Rose‘ besungen zu werden.“
    „Und der Dank für sein Lied?“
    „Bestand in jenem Röschen, welches er sich beim Scheiden von mir erbat.“
    „Um es vielleicht wegzuwerfen, als er später der Erinnerung müde geworden ist.“
    „Nein, nein“, antwortete sie mit leisem, nachdenklichem Ton. „Er war ein aufrichtiges und treues Gemüt und hat jedenfalls die Erinnerung an jene Stunden ebenso festgehalten wie ich. Seine Züge hat mein Gedächtnis nicht behalten können; aber seine Stimme klingt noch heute in mir fort, und ich glaube, daß ich ihn an derselben wiedererkennen würde.“
    „Nicht auch an seinem Namen?“
    „Den kenne ich nicht. Wir waren ja Kinder und fragten uns nicht nach der üblichen Legitimation. Meinen Namen habe ich ihm vielleicht genannt; der seinige aber ist nicht in Erwähnung gekommen. Doch wir entziehen uns der Gesellschaft. Lassen Sie uns zu ihr zurückkehren.“
    Es wirbelte in dem Kopf Winters, und er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu bleiben. Warum erzählte sie gerade ihm dieses kleine, kindliche Abenteuer, von welchem sie sicher gegen niemanden weiter gesprochen hatte? Warum verglich sie gerade ihn mit diesem Knaben, dessen Verse ihr bis heute ein teures Andenken gewesen waren? Er lächelte still und glücklich vor sich hin und mußte sich mit Gewalt von den Gedanken losreißen, welche ihn bestürmten. Aber als er später die Attribute seiner königlichen Würde abgelegt hatte und nun von allen Seiten um das versprochene Liedchen gebeten wurde, trat er mit dem Vorsatz an das Piano, den Beweis zu führen, daß jener Knabe den Tag im Wald auch treu im Gedächtnis bewahrt habe.
    Mit gewandter Technik flogen seine Finger präludierend über die Tasten, und als die nötige Stille eingetreten war, begann er den Gesang.
    Sein Auge war auf Wanda gerichtet. Er wollte sich den Genuß nicht versagen, sie während seines Vortrages zu beobachten.
    Bei den ersten Worten senkte sie, dem Wohlklang seiner Stimme lauschend, das Köpfchen; aber nicht lange währte es, so hob sie es mit einer raschen Bewegung in die Höhe. Forschend suchte ihr Auge in seinen Zügen; doch schien es, als wolle ihr das Gedächtnis nicht zu Hilfe kommen. Sie hatte ja vorhin gesagt, daß sie nur die vier letzten Verse behalten habe.
    Da erhob er sich, verließ, ohne Begleitung weiter singend, das Instrument und lehnte sich, den Blick noch immer auf sie gerichtet, mit verschränkten Armen an den nahen Pfeiler.
    Jetzt machte mit einem Mal der sinnende Ernst auf ihrem Angesicht einem hellen, sonnigen Lächeln Platz; dann strich sie mit einer Bewegung des freudigen Erkennens das reiche, volle Haar von den Schläfen zurück und schloß das Auge, um sich seinen Tönen mit vermehrter Aufmerksamkeit hingeben zu können. Kaum aber waren die Strophen
    „Drum schließe deine Augen zu,
Worin die Tränen glühn.
Ja, meine wilde Rose, du
Sollst nicht im Wald verblühn!“
    verklungen, so schnellte sie von ihrem Sitz in die Höhe und eilte mit einem Ausruf des Entzückens auf den Sänger zu.
    Schon wollte dieser ihre ausgestreckten Hände erfassen; da aber hielt sie plötzlich inne und floh, während die Glut der Scham ihr Antlitz bedeckte, dem Nebenzimmer zu.
    Hier öffnete sie das Fenster und bot die heiße Stirn dem kühlenden Hauch der Abendluft dar.
    Warum hatte sie ihn nicht eher erkannt! Dann wäre sie von der Überraschung nicht so plötzlich übermannt worden, und er hätte nie, nie erfahren, daß sie sein Bild aus den Jahren der Kindheit mit herübergenommen habe auch in die reifere und ernstere Zeit des Lebens. Eine plötzliche Erkenntnis stieg jäh und leuchtend in ihr empor, und alles, alles, was sie bisher gedacht, gefühlt, gehofft und gewollt hatte, stürzte haltlos zusammen und ließ nichts zurück als eine langsam aufdämmernde Ahnung gänzlicher Hilflosigkeit, gänzlichen Verlassenseins.
    Und mitten in diese Dämmerung hinein tönten jene mahnenden Worte, welche er ihr am heutigen Abend gesagt:
    „Es liegt in unserer Hand, das Niedergerissene mit starkem, vorurteilsfreiem Willen schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“
    Konnte das geschehen? Konnte sie dem Bann, den Geburt, Gewohnheit und Erziehung um sie gezogen, sich entreißen, um dem Ruf eines Gefühls zu folgen, welches Jahre unentdeckt in ihrem Innern geschlummert hatte und

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