40 - Im fernen Westen
zu jenen zähen, konsequenten Naturen, welche durch momentanes Nachgeben selbst das feindlichste Schicksal zu besiegen wissen und die Ausführung eines einmal gefaßten Gedankens wohl für einige Zeit aufschieben, niemals aber aufgeben.
Zwar gab er sich dem neuerwählten Beruf mit dem nachhaltigsten Pflichteifer hin; aber dieser Beruf sollte ihm die Mittel bringen zum selbständigen Vorwärtsschreiten auf dem Weg, welchen zu verlassen er gezwungen gewesen war. Und so kam es auch.
Schon nach einigen Jahren hatte er Leipzig, wo er Selbständigkeit nie gefunden hätte, mit seinem jetzigen Aufenthaltsort vertauscht, nach dem Tod seines Meisters dessen Geschäft übernommen und nun auch die Mutter mit den Schwestern zu sich gerufen, um sich einer geschlossenen Häuslichkeit erfreuen zu können.
Jetzt nun, da er sich in einer gesicherten Stellung sah, griff er wieder zu den alten Plänen und warf sich in seinen Mußestunden mit Eifer auf die Fortsetzung der unterbrochenen Studien.
Seine freie Lebensanschauung fand in dem schmutzigen Beruf eines Essenkehrers nichts Ehrwidriges, und so schritt er rastlos auf dem wiederbetretenen Weg vorwärts, ohne sich nach rechts oder links umzusehen und sich aus irgendeinem Umstand Störung bereiten zu lassen.
Seiner einzigen Erholung waren diejenigen Stunden gewidmet, welche er in der ‚Erheiterung‘ zubrachte, deren Vorsteher er vermöge seines organisatorischen Talents geworden war. Er war es eigentlich gewesen, der den Verein zu jener Beliebtheit gebracht hatte, welche seine Konzerte und Bälle so besucht machte, und als infolge einer mehrmonatlichen Abwesenheit sein Amt in die Hände eines anderen übergegangen war, hatte man es ihm nach seiner Rückkehr sofort wieder übertragen, und im gestrigen Stiftungsfest hatte er das erste neue Lebenszeichen von sich gegeben. Das dabei gehabte Zusammentreffen mit Wanda war ihm heute morgen Veranlassung geworden, sich an jenen Tag zurückzuversetzen, an welchem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Jene taufrische, kindlich reine Mädchenerscheinung hatte sich seinem poesievollen Sinn tief eingeprägt und war von dem Gedächtnis auch in dem kleinsten und einzelsten ihrer Züge mit inniger Treue festgehalten worden. Mitten in der Ausübung seines unromantischen Berufs tauchte diese Erscheinung auf; die Bilder seiner früchtereichen Phantasie gruppierten sich um ihre feenhafte, anmutige Gestalt und kehrten, so oft sie hinaus in die Weite schweiften, doch immer zurück zu dieser einen, an die er immer denken mußte und die er nimmer, nimmer vergessen konnte.
Der Gedanke an sie hatte ihn begleitet in seine bescheidenen und anspruchslosen Verhältnisse hinein, hatte ihm Kraft gegeben zu fortgesetztem, unermüdlichem Ringen, ihn begeistert und gestählt im Kampf mit dem widrigen Geschick und war auf diese Weise zu einer Macht geworden, der er sich beugte in all seinem Denken, Fühlen und Wollen.
Wie das so gekommen, wie es möglich war, daß das Bild eines den Kinderschuhen noch nicht entwachsenen Mädchens sich seines Herzens, seiner ganzen Seele hatte bemächtigen können, so daß es ihm für die Ruhe und den Frieden seines Inneren geradezu unentbehrlich geworden war, das konnte er nicht begreifen. Er hatte sich der lieben, freundlichen Erinnerung widerstandslos hingegeben und sich des anregenden und läuternden Einflusses dieser Erinnerung herzlich gefreut. Jetzt aber handelte es sich nicht mehr um ein bloßes Bild; jetzt hatte sie vor ihm gestanden voller Leben und sprudelnder Jugendlust, gerade so wie damals, aber unendlich schöner noch, unendlich bezaubernder. –
Mitten aus diesem Sinnen wurde er aufgeschreckt durch den Eintritt der beiden Freunde Thomas und Gräßler.
„Grüß Gott, Majestät! Haste ausgeschlafen?“ fragte der Schmied.
„Dank schön, Herr Oberhofkurier. Unsere königliche Gnaden haben schon geruht, in einer halben Mandel Essen herumzuscharren. Wie hat sich das Gouvernantchen angestellt?“
„Prächtig, altes Haus! Der Herr corpus juris Heinemann hat meine Alte an die richtige Adresse gebracht, und so durfte se nich böse sein, daß ich meiner Dame den schuldigen Respekt ooch erwiesen habe. Ich bin mein' Seel' erst halb viere heeme gekommen.“
„Und du, Heinrich?“
„Ich bin solid gewesen. Du weeßt doch, daß ich gar keene Dame gehabt habe, und da habe ich mich recht schön vernünftig in meiner eegenen Begleitung nach Bethlehem getrollt.“
„Na, alter Papierkleister, eene solche Solidität is mir
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