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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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deshalb, wenn es einem feindlich entgegentritt, ohne Schädigung des Selbstgefühls immerhin bekämpfen, das Kleinliche aber ist einfach verächtlich und kann weder die Seelenstimmung noch die Entschließungen eines ausgebildeten Charakters beeinflussen!“
    „Eines ausgebildeten Charakters, – ja, das ist es“, setzte sie hinzu. „Das Kleinliche besitzt im Leben ja nur deshalb so viel Macht, weil es an wirklich ausgeprägten Charakteren mangelt. Und wer trägt die Schuld an diesem Mangel? Wie viel wird hier gefehlt und gesündigt, wie manches Lebensglück zertrümmert, weil der Grundstein zu demselben auf sandige oder verwitterte Unterlage zu liegen kam!“
    „Und doch liegt es meist in unserer eigenen Hand, den wankenden Bau mit starkem, vorurteilsfreiem Willen niederzureißen, um ihn dann auf festerem Boden schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“
    Jetzt war an ihr die Reihe, ihn mit einem forschenden Blicke anzusehen. Traute er ihr diesen Willen nicht zu?
    „Wer doch die freie, ungebundene Kraft dazu besäße!“ hauchte sie.
    „Wenn nicht, so leiht man sich die nötige Kraft. Auch ich habe niedergerissen und arbeite noch heute an dem Wiederaufbau des Zertrümmerten.“
    „Allein?“
    „Allein.“
    „Dann beneide ich Sie um Ihren Mut.“
    „Oh, ich habe noch davon übrig, Kraft und auch Mut“, erwiderte er, während sein Auge in heller Genugtuung aufleuchtete.
    Sie fühlte, daß weder Stolz noch Selbstüberhebung aus diesen Worten sprach, und legte unwillkürlich die Hand auf das Herz, in welchem noch nie empfundene Regungen sich geltend machen wollten.
    „Dieses edle, freudige Selbstbewußtsein habe ich bisher nur bei einem einzigen bemerkt, und dieser eine war fast noch ein Knabe.“
    „Ein Knabe?“
    „Sie wollen zweifelnd fragen, ein selbstbewußter Knabe? Ich weiß, wie wenig diese beiden Worte oder Begriffe zusammenpassen, und doch ist es so.“
    „Darf ich diesen Knaben kennen lernen?“
    „Ich begleitete als junges, zwölfjähriges Mädchen den damals lebenden Vater auf einer Erholungsreise durch Thüringen. Wir hatten bei einem seiner früheren Studiengenossen Absteigequartier genommen, und da die Herren es liebten, sich den ganzen Tag bei Gott weiß welchem philosophischen Thema zu langweilen, so zog ich es vor, allein und ohne Begleitung, wie es auch jetzt noch meine Art und Weise ist, in Busch und Wald herumzustreichen und der Freundin Natur so recht tief und aufmerksam in das herzige Auge zu blicken. Während dieser Streifzüge traf ich auf einen jungen, siebzehnjährigen Menschen, welcher in der nahen Stadt einen Verwandten aufsuchen wollte. Er kam aus Leipzig und war der jüngste Sohn eines Ihrer Berufsgenossen. Dieser war kürzlich gestorben und hatte, da sein hinterlassenes Soll das Haben bedeutend überstieg, die Seinen in den betrübendsten Verhältnissen zurückgelassen. Da es an den nötigen Mitteln mangelte, mußte der ältere Sohn die Universität verlassen und sich mit einer karg besoldeten, subalternen Stelle bei der Polizei der Residenz begnügen. Der Jüngere, welcher noch im Gymnasium gesessen hatte, war gezwungen, der Heimat den Rücken zu kehren, um bei einem Paten, welcher dem ehrsamen Schneiderhandwerk oblag, dessen Profession zu erlernen, und die Mutter blieb mit den Schwestern zurück, um ihr Leben mit dem spärlichen Ertrag der Nadelarbeit zu fristen.
    Der junge Mensch brauchte erst am Abend bei dem Paten einzutreffen, und da wir, wie es bei Kindern oft zu geschehen pflegt, schnell Wohlgefallen aneinander fanden, so beschlossen wir, uns für den heutigen Nachmittag einander anzuschließen und diese letzten seiner freien Stunden gehörig auszunützen. Er war eine jener großartig angelegten Naturen. Das fühlte und erkannte ich freilich erst später; aber als wir endlich voneinander schieden, bat ich ihn, mir ein Andenken zurückzulassen. Er fragte mich, welches, und da ich bemerkt hatte, daß er eine wundervolle Stimme besaß und auch gewandt im Versemachen war, so gab ich ihm die Aufgabe, ein Gedicht auf mich zu machen und es mir zum Abschied vorzusingen. Da lehnte er sich mit verschlungenen Armen an den Stamm eines nahen Baumes, blickte mir eine Zeitlang sinnend in das Angesicht und begann dann zu singen. Zwar habe ich nur die vier letzten Verse des Liedes behalten, aber sie sind mir ein liebes und gern gehegtes Andenken geblieben bis auf den heutigen Tag.“
    „Darf ich fragen, was er gesungen hat?“
    „Ich hatte ein Heckenröschen in das Haar

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