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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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jetzt mit einem Mal seine leuchtenden Flammen über sie zusammenschlug?
    Lange, lange stand sie so am Fenster und vermochte trotz aller Anstrengung nicht ihr heftig klopfendes Herz zur Ruhe zu bringen. Da ertönte es leise neben ihr:
    „Wanda!“
    Sie verharrte regungslos in ihrer Stellung.
    „Habe ich Sie beleidigt? Verzeihen Sie mir!“
    Es erfolgte keine Antwort.
    „Bitte, sagen Sie mir ein Wort, nur ein einziges Wort!“
    Es war ihr unmöglich, ihr glühendes Angesicht dem Sprecher zuzuwenden, und eine jede Silbe hätte ihre innere Aufregung verraten. Sie schwieg.
    „Gute Nacht, Fräulein von Chlowicki!“ klang es da fest und energisch an ihr Ohr, und zu gleicher Zeit vernahm sie seinen sich entfernenden Schritt.
    „Herr Winter!“
    Er drehte sich langsam um. Kalt blickte sein Auge auf sie hin, und kein Zug seines Gesichts verriet auch nur die leiseste Störung seines inneren Gleichgewichts.
    „Sie dürfen mich nicht verlassen, Herr Winter! Oder soll ich ohne Schutz und Begleitung dem Dunkel der Nacht mich anvertrauen?“
    „Befehlen Sie Ihre Garderobe?“
    „Ich bitte um sie!“
    Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit dem Gewünschten zurück und verließ mit ihr das Haus. Auf der Straße angekommen, bot er ihr seinen Arm. Sie legte die Hand leise auf denselben, und so schritten sie in tiefen Gedanken wortlos weiter.
    „Hier ist meine Wohnung. Die Mutter hat noch Licht und erwartet mich.“
    Er zog die Glocke, und sofort erschien eine Dienerin, um zu öffnen.
    „Im Namen meines Vereins danke ich Ihnen für die gnädige Herablassung, welche uns einen so unerwartet schönen Abend bereitet hat!“
    „Wollen Sie nicht für einen Augenblick Zutritt nehmen, damit auch Mutter Ihnen für Ihre Begleitung Dank sage?“
    „Ich bitte, mich zu dispensieren. Die späte Stunde wird mich genügend entschuldigen.“
    „Dann gute Nacht!“
    „Gute Nacht!“

Im Felsenbruch
    Hingerissen von der begeisternden Gewalt der herrlichen Dichtung hatte Wanda vorgelesen. Jetzt schlug sie das Buch zu und blickte hinüber zur Mutter, um zu erforschen, welchen Eindruck die Vorlesung auf dieselbe gemacht habe.
    Auf den kalten, starren, empfindungslosen Zügen der Frau von Chlowicki lag eine leise, kaum bemerkbare Röte als einziges Zeichen ihres Ergriffenseins; doch war bei der streng abweisenden Unempfindlichkeit der alten Dame diese Röte ein größeres Zugeständnis für den Dichter, als es der Applaus eines der Bewunderung des wahrhaft Edlen und Schönen zugänglicheren Publikums hätte sein können.
    „Ich habe nie einem Menschenkind gestattet“, sprach sie mit heiserer, vom Husten oft unterbrochener Stimme, „sich irgendwelchen Einflusses auf die Gefühle meines Herzens zu rühmen. Wer die hohe Aufgabe zu lösen hat, für die von so vielen Seiten angefochtenen Traditionen eines bevorzugten Standes einzustehen, der muß auch die kleinste Anlage zu idealistischer Schwärmerei ersticken und vernichten; denn die nackte Realität des Lebens tritt an die Angehörigen dieses Standes mit Anforderungen heran, denen nur ein in Drachenblut getauchter und so gegen alle Anfeindung gefeiter Charakter gerecht werden kann. So bin ich aller schwärmerischen Empfindelei fremd geblieben und kann nur aus diesem Grund mich rühmen, stets und in allen Lagen Herr meiner selbst und auch meiner Verhältnisse gewesen zu sein. Dieser unbekannte Autor, dessen gewandte und aristokratisch feine Schreibweise ihn hoch über den Schwarm unserer heutigen Dichterlinge stellt, ist der erste, dem ich meine Aufmerksamkeit und geistige Hingebung widme, und ich kann das in der beruhigenden Überzeugung tun, daß er sich in einer seiner nächsten Nummern als der Träger eines den höheren Sphären angehörigen Namens demaskieren wird.“
    „Aristokratisch sein und gewandt, Mama? Dieser eine Vorzug scheint mir, da er sich doch nur auf die Form bezieht, bei seinen vielen anderen vortrefflichen Eigenschaften der kleinste und unbedeutendste zu sein. Ich beurteile den Mann nicht nach dieser Außenseite und hege infolgedessen eine der deinigen vollständig entgegengesetzten Meinung über die Sphäre, welche ihm als Heimat dient. Seine urwüchsige Natürlichkeit, die so kraft- und effektvoll unter säuselnden Blättern und duftigen Blüten zum Himmel strebt, kann unmöglich in der künstlich gemischten Blumenerde des Salons ihre Wurzel geschlagen haben. Sein gegen den Druck niederbeugender Verhältnisse kämpfender, in die Zügel knirschender und mutig sich

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