40 - Im fernen Westen
seine Zweige nach außen an das Tageslicht drängte, war jetzt nach innen gebogen und bildete das Lager einer Frauengestalt, welche regungslos in der Weise auf demselben niedergestreckt war, daß ein Teil des unteren Körpers über den Grund der Höhle herausragte und nur in den wenigen Dornenzweigen eine zweifelhafte Stütze fand.
Es war die Polin.
Die Macht der Explosion hatte sie seitwärts geschleudert, und nur Gottes Hand war es gewesen, die den Sturz so geleitet hatte, daß er nicht in die Tiefe gegangen war.
Ob sie tot, ob sie lebend sei, Winter fragte nicht danach.
Seine Haare wollten sich emporsträuben bei dem Gedanken an die Gefährlichkeit ihrer jetzigen Lage; denn bei der geringsten Bewegung mußte sie den Halt verlieren und unten auf den Felsentrümmern zerschmettert werden.
Von oben war die Höhle selbst mit einer Strickleiter nicht zugänglich, da der Rand des Bruchs weit hervorragte, und von unten konnte sie wegen ihrer außerordentlichen Höhe auch durch zusammengebundene Leitern nicht erreicht werden. Es gab nur einen Weg zu ihr, und dieser eine Weg mußte sofort und ohne die mindeste Versäumnis betreten werden, wenn Hilfe überhaupt noch gebracht werden sollte und konnte.
Ohne zu beobachten, daß die Nähe des Abgrundes ihm selbst Gefahr drohe, rannte er in mächtigen Sätzen den steilen und glatten Pfad hinab.
Die Umstehenden sahen ihn kommen, schlossen aus der Eile, mit welcher er seinen Weg zurücklegte, daß er eine Entdeckung gemacht habe und drängten sich ihm entgegen.
„Wo ist der Herr Stadtrichter?“ rief er atemlos.
„Hier bin ich, Herr Winter. Was gibt es?“
„Verfügen Sie sich so schleunigst wie möglich, aber ohne Begleitung dieser Leute hier, hinauf an die Stelle, an welcher der Altan sich befunden hat. Es erwarten Sie wichtige Mitteilungen oben.“
Und sich zu den anderen wendend, fragte er:
„Haben Sie bei Ihrem Suchen vielleicht ein Seil oder so etwas Ähnliches bemerkt?“
„Wir haben ein Seil unten in unserer Hütte“, antwortete einer der Steinbrecher, welche mit herbeigetreten waren.
„Langt es bis hinauf an die Höhle dort?“
„Ja, es ist das große Windeseil.“
„Holen Sie es sofort, und hier, Junge, hast du Geld und hole von deinem Meister zwei Pack vom stärksten Bindfaden. Aber laufe um Gottes willen schnell: es gilt ein Menschenleben. In fünf Minuten mußt du wieder hier sein.“
Wie aus einer Pistole geschlossen, flog der Seilerlehrling von dannen, und Winter erklärte nun den Umstehenden die Notwendigkeit, Seile und Bindfaden zu haben.
„Fräulein von Chlowicki ist von dem Sturz dort oben in die Höhle geschleudert worden. Der Zugang zu dieser Höhle ist nur dadurch möglich, daß man die Risse im Felsen zum Emporsteigen benutzt, das schwere Seil dann mittels des Bindfadens emporzieht und erst die Verunglückte und dann sich selbst daran herunterläßt.“
Die Aufregung der Leute war groß. Rufe des Erstaunens und der Verwunderung über die glückliche Richtung des Falls mischten sich mit mißbilligenden Ausdrücken über die von Winter gehegte Ansicht von der Art und Weise, wie das Mädchen zu retten sei.
Hunderterlei Meinungen wurden ausgesprochen; der Essenkehrer aber hörte gar nicht auf die Worte. Er verfolgte den Lauf der verschiedenen Risse und Klüftungen und schien endlich über den Weg, den er einzuschlagen hatte, mit sich einig zu sein.
Jetzt brachten auch mehrere Arbeiter das Seil, und gleich hinter ihnen kam der schnellfüßige Lehrling gesprungen und übergab Winter den verlangten Bindfaden.
„Nun paßt auf, ihr Leute. Ich steige hinauf, und wenn ich euch den Faden herablasse, so befestigt ihr das Seil daran. Das ist alles, was ihr zu tun habt!“
Er steckte Hammer und Meißel, welche er schon vorhin aus der Werkzeughütte geholt hatte, zu sich, kletterte über die Steintrümmer hinüber zur Felsenwand und begann den gefahrvollen Aufstieg.
Der Felsen stieg senkrecht in die Höhe und zeigte sogar Stellen, wo er sich nach außen wölbte.
Hier galt es nicht nur ein sicheres Auge und ein mutiges Herz, sondern vor allen Dingen war ein mit ungewöhnlicher Muskelkraft ausgerüsteter Körper notwendig. Denn bei dem geringsten Nachlassen der angespannten Muskeln war der verderbliche Sturz die augenblicklichste Folge.
Mit dem Rücken nach außen, stemmte er Arme und Beine in die Kluft und arbeitete sich langsam und ruhig nach Schornsteinfegermanier empor.
Die Augen der Umstehenden hingen mit Spannung an ihm;
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