40 - Im fernen Westen
nicht!“
„Warum nicht? Bin ich ein so strenger Beichtvater, daß du schon bei meiner bloßen Aufforderung die Augen niederschlägst? Oder ist deine Sünde so groß, daß du dir lieber von ihr das Herz abdrücken läßt, als daß du mir ein aufrichtiges Wort sagst?“
„Ich bin mir über das, was du wissen willst, selbst noch zu sehr im unklaren, als daß ich dir Mitteilung davon machen könnte.“
„Aber diese mangelnde Klarheit kommt sehr oft mit dem Sprechen. Ich werde mit dem Schwert meiner Zunge den Knoten zerschneiden, welcher deine Aufrichtigkeit gefangen hält.“
„Laß das!“
„Nein! Es ist meine Pflicht als Bruder, dir die Augen zu öffnen, um dich vor dem Übel, welches dir droht, zu bewahren. Dein Brief hat mir, so leicht und kurz er auch über den Gegenstand deiner Gefühle hinwegeilt, doch gesagt, daß du einem Abgrund entgegengehst.“
„Welchem?“
„Du liebst Wanda, und bei der Innigkeit und Tiefe deines Wesens wird dich diese Liebe, die eine vergebliche und unerwiderte sein muß, zugrunde richten.“
„Weißt du das so genau?“
„Ja. Ich bin Psychologe; wenn auch kein Meister, aber doch ein Mann, der seine Augen stets offen gehabt hat.“
„Und wenn ich nun behaupte, daß diese Liebe keine unerwiderte ist?“
„Hast du Beweise?“
„Mehrere; unter anderem den Zorn, welchen sie empfand, als sie droben in der Höhle gerade in dem Augenblick zu sich kam, an welchem meine Lippen auf ihrem Mund ruhten.“
„Das kann ebenso gut das Gegenteil beweisen. Ich kenne die Dame so ein wenig von der Residenz aus und habe genug von ihren Extravaganzen gehört, um annehmen zu können, daß sie der Zuneigung eines Mannes von untergeordneter Stellung allerdings des Abenteuerlichen halber einige Aufmerksamkeit zu schenken gestimmt sein kann, daß sie diese Liebe aber auch rücksichtslos in den Staub treten wird, sobald sie sich aus dem Bereich des Platonischen herauswagt.“
„Hast du ähnliche Beispiele von ihr gehört?“
„Nein; im Gegenteil ist es allbekannt, daß sie sich keinem Mann gegenüber auch nur den geringsten Anschein einer mehr als gewöhnlichen Aufmerksamkeit gegeben hat. Sie wurde förmlich umschwärmt, selbst von den Angehörigen der Creme unserer Gesellschaft; wie willst du da Hoffnung hegen dürfen!“
„Deine Psychologie schmeckt nach dem Schema, Bruder. Ich habe allen Respekt vor deinem Scharfblick, und wenn Ansichten in betreff Wandas nicht harmonieren, so liegt der einzige Grund in dem Umstand, daß du dieses reichbegabte und eigenartig gebildete Wesen nur aus der Ferne gesehen und nach dem Hörensagen beurteilt hast.“
„Aber sie ist verlobt!“
„Diese Verlobung gilt am allerwenigsten in deinen Augen etwas. Ihr Bräutigam ist ja der erklärte Gegenstand deines polizeilichen Mißtrauens.“
„Aber sie hat ja zu dieser Verbindung gesagt.“
„Das beweist nichts über ihre Gefühle. Im Gegenteil habe ich wiederholt bemerkt, daß sie ihn mit einer sogar verächtlichen Abneigung behandelt. Es müssen stringirende Umstände vorhanden sein, welche ihr die Zustimmung abgenötigt haben.“
„Das sind dunkle Punkte, welche wir aufklären müssen. Für jetzt will ich mein Urteil zurücknehmen; aber meine Ansicht, daß eine intime Beziehung zwischen einem Essenkehrer und einer Baronesse fast unter die Unmöglichkeiten gehört, bleibt dieselbe. Du bist mir doch nicht bös wegen meiner brüderlichen Aufrichtigkeit?“
„Ich halte diese Aufrichtigkeit einfach für deine Pflicht; aber du gibst meiner vorhin angedeuteten Meinung, daß dieser Gegenstand ein unerquickliches Gesprächsobjekt sei, doch recht. Ich bin in der Schule des Lebens fest und sicher geworden und gestatte mir keinerlei Illusion. Ein Menschenkind ist nie nach der Stelle, an welcher es geboren wurde, sondern nach derjenigen, welche es durch eigene Anstrengung und inneren Wert errungen hat, zu schätzen, und das Mädchen, von welchem wir sprechen, hat noch keinen einzigen selbständigen Schritt getan, der irgendwelchen Wert für meine Beurteilung hätte. Sie steht also keineswegs unerreichbar da.“
„Du sprichst allerdings sehr kalt.“
„Der Verstand darf keine Luftschlösser bauen; die Liebe aber lehrt mich hoffen, daß Wanda ein Charakter sei. Zum Herabsteigen ist mehr moralischer Mut erforderlich als zum Emporklimmen, und die Zukunft wird zeigen, ob mein Glaube der rechte gewesen ist.“ – – –
Während die beiden Brüder in tiefernstem Gespräch miteinander begriffen waren,
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