40 - Im fernen Westen
erstenmal das Auge voll und forschend auf mich und sagte:
„Die Bleichgesichter sind über das große Wasser herübergekommen. Dort gibt es lichthaarige, die Engländer, und dunkelhaarige, die Spanier. Zu welchen gehörst du?“
„Zu diesen nicht und zu jenen auch nicht!“ antwortete ich.
„Das ist gut! Sie sind Lügner mit lichtem Skalp und Lügner mit dunklem Skalp. Aber zu welchem Stamm gehörst du sonst?“
„Ich gehöre zu dem großen Volk der Germany, welche Freunde der roten Männer sind und noch niemals ihre Wigwams angegriffen haben.“
„Uff!“ sagte er überrascht. „Die Germany sind gut. Sie haben nur einen Gott, nur eine Zunge und nur ein Herz.“
„Kennst du sie?“ fragte ich, nun meinerseits überrascht.
„Nein“, antwortete er. „Aber ich habe von einem großen weißen Jäger gehört, der ein Krieger der Germany ist. Er tötet den Grizzly mit dem Messer; er wirft jeden Feind mit einem Schlag seiner Faust zu Boden; seine Kugel geht nie fehl, und er redet die Sprachen aller roten Männer. Er ist ihr Freund und darf mitten unter allen weilen, denn keiner wird ihm ein Leid tun.“
„Wie heißt er?“
„Die roten Männer nennen ihn Vau-va-shala, tödliche Hand, die weißen Jäger aber rufen ihn Old Shatterhand. Er kennt alle Tiere der Ebene und des Gebirges, denn Winnetou, der große Häuptling der Apachen, ist sein Lehrer gewesen.“
„Würdest du das Kalumet mit ihm rauchen?“
„Er ist ein großer Häuptling; ich müßte warten, bis er selbst mir die Pfeife des Friedens anböte.“
„Er wird sie mit dir rauchen. Sage mir deinen Namen!“
„Man nennt mich Pokai-po, das ‚Tötende Feuer‘.“
„So bist du der zweite Häuptling der Sioux vom Stamme der Tetongs!“
„Ich bin es“, antwortete er mit stolzer Einfachheit.
„Ich habe von dir gehört. Ein Häuptling der Sioux soll nicht gefesselt vor mir liegen. Du bist frei!“
Ich nahm ihm das Lasso von den Gliedern. Er richtete sich empor, blickte mich ganz erstaunt an und sagte:
„Warum gibst du mich frei? Warum tötest du nicht den größten Feind der Bleichgesichter?“
„Weil du ein tapferer und gerechter Krieger bist. Du bist der Feind der Bleichgesichter nur deshalb geworden, weil sie selbst ihre Freundschaft mit euch gebrochen haben. Aber es gibt sehr viele große und mächtige Völker der Bleichgesichter, und darunter sind viele, welche Freunde der roten Männer sind. Du darfst nicht alle weißen Männer hassen, weil einige falsch und untreu waren. Du wolltest mich überfallen, ich aber nahm dich gefangen; dein Skalp gehörte mir, ich aber gab dich frei. Laß uns die Pfeife des Friedens rauchen und dann als Brüder voneinander scheiden!“
Ich griff zur Pfeife, welche ich nach Trapperart am Hals hängen hatte, und stopfte sie. Er war sicher froh, mit heiler Haut zu entkommen, aber dennoch fragte er sich im stillen, ob es sich mit seiner Häuptlingsehre vertrage, von einem unbekannten Weißen die Pfeife angeboten zu erhalten. Darum fragte er:
„Bist du denn ein Häuptling der Weißen, und wie lautet dein Name?“
„Das ‚Tötende Feuer‘ braucht sich nicht zu schämen, das Kalumet mit mir zu rauchen“, antwortete ich. „Ich bin Old Shatterhand, der Bruder aller roten Männer.“
Die Indianer sind gewohnt, selbst die überraschendste Nachricht mit der größten äußerlichen Ruhe aufzunehmen, aber kaum hatte ich den Namen genannt, welcher mir von irgendeinem müßigen Trapper gegeben worden war und sich dann von Mund zu Mund fortgesprochen hatte, so sprang der Häuptling in die Höhe und rief:
„Old Shatterhand! Redest du die Wahrheit!?“
„Kann das tödliche Feuer von einem gewöhnlichen Jäger überlistet und besiegt werden? Habe ich dich nicht vorhin mit einem einzigen Schlag meiner Hand niedergestreckt?“
„Aber wo ist da Winnetou, der große Häuptling der Apachen?“ Winnetou und ich waren als unzertrennlich bekannt; daher diese Frage.
„Er ist an den Quellen des Tonqueflusses, wo er mich erwartet. Ich mußte nach dem Fort Cast, um eine Wunde zu heilen. Das ‚Tötende Feuer‘ mag Platz nehmen neben mir; oder soll Feindschaft zwischen uns beiden sein?“
„Wir wollen Brüder sein“, sagte er im feierlichen Ton. „Deine Feinde sind meine Feinde, und meine Brüder sind deine Brüder. Du sollst willkommen sein in allen Zelten der Sioux, und unser Leben ist wie ein einziges; einer soll für den anderen sterben!“
Von diesem Augenblick an konnte ich sicher sein, einen neuen Freund
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