40 Stunden
schwieg, nachdem er in die Hauptstraße eingebogen war, fragte er vorsichtig: » Und?«
Nochmals seufzte Hesse. » Ich war mehrere Monate da. Und ich habe eine Frau kennengelernt.«
Eine Ahnung flog Faris an wie ein kühler Luftzug, der ihn schaudern ließ. » Das Bild auf deinem Schreibtisch.« Vor seinem geistigen Auge erschien die junge, dunkelhaarige Frau mit den goldenen Sternohrringen, die er auf dem Foto in Hesses Büro gesehen hatte.
» Faridah«, sagte Hesse leise. » So hieß sie.«
» Ein schöner Name.« Faris kämpfte gegen das Mitgefühl an, das er nahen spürte. Etwas Schlimmes war mit dieser Faridah geschehen, das ahnte er. Er musste sich mit Gewalt daran erinnern, dass Hesse den Finger auf dem Auslöser hatte.
» Sie ist tot.« Die drei Worte klangen wie ein Schluchzer.
Faris spürte den Abgrund, an dem sie standen. » Was ist passiert?«, fragte er behutsam.
» Ich habe mich in sie verliebt. Und sie sich in mich.« Lange Augenblicke war nur Hesses schweres Atmen in der Leitung zu hören. » Das hat sie das Leben gekostet.«
Während Faris am Alt-Schöneberger Friedhof und den beiden dicht nebeneinanderliegenden Kirchen vorbeifuhr, lauschte er auf die mühsamen Atemzüge des Reporters.
» Sie haben sie verurteilt«, kam es schließlich stockend.
Wieder folgte eine lange Pause.
» Und gesteinigt.«
In seinem In-Ear-Hörer konnte Faris Shannon leise fluchen hören.
Obwohl der Verkehr es eigentlich nicht zuließ, schloss Faris die Augen. Erst ein langanhaltendes Hupen holte ihn in die Realität zurück. Er riss die Augen wieder auf und schwenkte zurück auf seine Fahrbahn, von der er abgekommen war. Ein Sportwagen zog mit einem wütenden Schlenker an ihm vorbei, und aus den Augenwinkeln sah er den Fahrer schimpfen. » Sie war verheiratet«, sagte er leise. Er musste nicht nachfragen, er wusste es einfach.
Hesse stieß einen Laut aus, der einem Wimmern glich. » Ich musste dabei zusehen.« Auch er sprach leise. Sehr leise. Und dennoch brannten sich die Worte in Faris’ Verstand. » Sie haben mich zusehen lassen, Faris! Ich habe die Steine fliegen sehen, jeden einzelnen. Weißt du, was es für ein Geräusch macht, wenn Stein auf Schädelknochen trifft? Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man hofft, dass der nächste endlich der tödliche ist, weil man es nicht mehr aushält?« Faris konnte das Zittern in Hesses Stimme hören, dann ein Räuspern.
Plötzlich klang der Reporter wieder kühl und gefasst. Die Wandlung kam so abrupt, dass es Faris grauste.
» Danach habe ich Afghanistan verlassen und bin zurück nach Berlin gekommen. Du kannst mir glauben, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich das einigermaßen verarbeitet hatte.«
An einer Ampel musste Faris erneut anhalten. Ein paar Kirchentagbesucher gingen im Pulk über den Fußgängerüberweg. Auf der anderen Seite standen Demonstranten mit ihren gedruckten Teufelsplakaten. Die Ampel sprang auf Grün, und Faris gab wieder Gas. Inzwischen war er froh, dass Hesse ihm eine Stunde Zeit gegeben hatte. Der Verkehr war eine Katastrophe.
» Und du hast hotnewzz gegründet«, sagte er. » Du hast als Jugendlicher schon angefangen zu schreiben, wenn dir etwas auf der Seele lag.«
» Manchmal kann ich nachts nicht schlafen, weil ich diese Bilder nicht aus dem Kopf kriege. Und dann schreibe ich. Das hilft.«
Um diese Fähigkeit hatte Faris Hesse immer beneidet. Er selbst besaß kein wirksames Ventil, um die oft grausamen Bilder, die sein Job mit sich brachte, loszuwerden. Er zögerte, doch dann sprach er es aus. » Oder du baust Bomben und jagst sie in die Luft.«
Hesse ignorierte ihn. » Ich hatte gerade halbwegs den Boden unter den Füßen zurückerlangt. Und weißt du, was dann passiert ist?« Er ließ Faris nicht zu Wort kommen, sondern gab die Antwort gleich selbst. » Der Scheißkerl im Museum bombt meine Mutter in die Luft.«
» Das auslösende Ereignis«, hörte Faris Shannon im War Room sagen, und es versetzte ihm einen Stich, weil es immer Paul gewesen war, der diese Worte benutzt hatte. Plötzlich war jeder Anflug von Mitleid mit Hesse verflogen. Dieser Kerl dort am anderen Ende der Leitung– das war nicht mehr sein Freund. Er war auch kein bedauernswertes Opfer, sondern das Arschloch, das seinen Partner auf dem Gewissen hatte!
» Auch wenn meine Alte mich mit fünf Jahren weggegeben hat wie einen alten Hut«, fuhr Hesse fort, » habe ich immer Kontakt zu ihr gehalten. Und als sie starb, habe ich mich um ihren Nachlass
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