40 Stunden
hob eine Augenbraue. » Wie das?«
Sie erreichten das Freie. Nahezu die gesamte Wilmersdorfer Straße war blockiert von Polizei- und Notarztwagen, die völlig chaotisch auf Gehwegen und der Fahrbahn abgestellt worden waren. Blaulichter warfen zuckende Reflexe auf die umliegenden Gebäude, und aus der Ferne näherten sich noch immer neue Wagen mit eingeschalteten Martinshörnern. Menschen rannten umher, auch hier oben kümmerten sich Sanitäter um Verletzte. Faris sah, wie ein Zinksarg in der Tür eines Leichenwagens verschwand. Dutzende von Kollegen standen beieinander, sprachen mit Zeugen oder diskutierten, was zu tun war. Und am Rande des ganzen Chaos lauerten bereits die obligatorischen Übertragungswagen der Fernseh- und Rundfunkstationen. Die ersten Kameras liefen.
Faris zog Paul zwischen die Rettungswagen. Dann rieb er sich Mund und Nase. » Könnte sein, dass es der Kerl aus dem Klersch-Museum war.« Seine Stimme klang belegt.
Pauls Augen weiteten sich. » Der Museumsbomber? Quatsch! Der ist doch bei der Explosion damals draufgegangen!« Sein Blick fiel auf einen Mann im dunkelblauen Anzug, der etwas abseits stand und sich mit einigen anderen Anzugträgern, offensichtlich Politikern, unterhielt. Über Pauls Miene glitt ein düsterer Ausdruck, aber dann wandte er sich wieder Faris zu. » Im Ernst, Partner, es kann nicht der Attentäter von damals gewesen sein!«
Zwei Rettungssanitäter kamen mit einer Trage die Treppe hinauf. Der Körper darauf war vollständig mit einem weißen Tuch bedeckt. Schweigend hielten die beiden an und sahen ratlos um sich.
Die Haare an Faris’ Armen richteten sich auf. » As-samu alaikum«, flüsterte er. » Das waren die Worte, mit denen sich der Anrufer vorhin gemeldet hat.«
» Scheiße!«, rutschte es Paul heraus.
Faris schluckte und nickte zustimmend. Wie von einem Lufthauch an sein Ohr geweht, hörte er das Weinen des Kindes. » As-samu alaikum.« Er musste sich räuspern.
Paul sah seine Betroffenheit. » Was jetzt?«
» Der Anrufer hat mir eine Nachricht zukommen lassen.« Faris beobachtete die beiden Rettungssanitäter, die sich entschieden hatten, die Trage mit dem Toten einfach zwischen den Rettungswagen abzustellen. » Er sagte, dass diese Bombe nicht die letzte war.«
Um die Ecke bog die dunkle Kühlerhaube eines weiteren Leichenwagens.
Faris griff in die Tasche. » Und da ist noch was, das dir nicht gefallen wird«, sagte er düster und tastete nach seinem Smartphone.
Alexander
» Ich weiß nicht, was ich erzählen soll«, wisperte Alexander.
DOCH , DAS WEISST DU , widersprach die Stimme des Boten. ERZÄHL MIR , WIE ALLES BEGANN .
Und seltsamerweise erkannte Alexander, was der Bote meinte. » Es war an einem Sonntag bei meiner Oma«, flüsterte er. Er erinnerte sich. » Weihnachten. An Weihnachten war es. Bei meiner Oma!«
Und dann begann er zu erzählen…
Oma hat Rouladen gekocht, und auf seinem Teller befindet sich ein Stück zähes Fleisch. Wie der Kadaver eines kleinen Tieres sieht es aus, je länger er davorhockt und darin herumstochert. Die dunkle Sauce sieht aus wie getrocknetes Blut, und obwohl er tapfer kaut und kaut, schafft er es nicht, den nächsten Bissen runterzuschlucken.
Er bemüht sich redlich, aber als er den Brocken durch seine enge Kehle zwängt, würgt es ihn. Fast spuckt er das zerkaute Fleisch mitten auf das weiße Tischtuch. Gerade noch rettet Oma ihn und hält die flache Hand unter sein Kinn, um die ekeligen Reste aufzufangen.
» Kannst du nicht mehr?«, fragt sie. Sie klingt freundlich und besorgt. Ganz kurz huscht Alexanders Blick zu seinem Vater. Doch der ist in ein Gespräch mit seinem Opa vertieft, also nickt Alexander beklommen.
Da nimmt Oma seinen Teller fort. » Du musst das nicht aufessen«, sagt sie lächelnd. » Als ich so alt war wie du, habe ich Rouladen auch nicht gemocht.« Sie steht auf und schickt sich an, den Tisch abzuräumen. Inzwischen sind alle anderen Familienmitglieder ebenfalls fertig mit dem Essen. » Warte nur, gleich gibt es Nachtisch, davon bekommst du ein bisschen, ja?«
Alexander ist froh, und darum vergisst er, in Vaters Richtung zu schauen. Als er den Kopf wendet, bemerkt er, dass Vater ihn beobachtet. Er schluckt schwer. Doch da Vaters Miene keinerlei Missbilligung anzusehen ist, glaubt er sich schon in Sicherheit.
Mutter, die neben ihm sitzt, zeichnet mit einer Gabelzinke kleine Achten in das gestärkte weiße Tischtuch und vermeidet es, ihm oder Vater in die Augen zu blicken
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