40 Stunden
klang dabei ein wenig wie eine Dozentin im Hörsaal, » bedeutet ein massives körperliches Trauma, das einhergeht mit hohem Blutverlust– zumindest wenn man Geißelung und Dornenkrone mit in Betracht zieht. Den Blutverlust scheint unser Täter einkalkuliert zu haben, jedenfalls vermute ich, dass er sein Opfer aus diesem Grund mit einem Tropf versehen hat.«
» Das bedeutet?«, hakte Tromsdorff ein.
Shannon holte tief Luft. » Das bedeutet, dass er plant, sein Opfer eine Weile am Leben zu halten. Der Blutverlust ist aber nicht das größte Problem bei einer Kreuzigung. Es ist die starre Körperhaltung.« Sie baute sich vor der Leinwand auf und deutete mit einem Stift, den sie auf dem Weg an sich genommen hatte, auf die ausgebreiteten Arme des Mannes. » Die aufgespannten Arme und die aufrecht fixierte Haltung führen dazu, dass das Opfer irgendwann nicht mehr richtig atmen kann und am Ende erstickt.«
» Gibt es Studien darüber, wie lange es dauert, bis…« Faris schluckte den Rest seiner Frage hinunter.
Shannon sah ihn ernst an. » Gibt es. Wenn der Schock und der Blutverlust einen Gekreuzigten nicht rasch getötet haben, haben die armen Teufel stunden-, manchmal tagelang überlebt. Das hier«, sie wies auf die Stelle neben dem Gesäß des Opfers, » ist ein Sitzbrett, auf das sich der Mann stützen kann, wenn er keine Luft mehr bekommt. In antiker Zeit diente es dazu, die Qualen der Opfer noch zu verlängern.«
» Großer Gott!«, hörte Faris Gitta murmeln. » Das ist ja bestialisch!«
» Nein«, rief Faris plötzlich, und sie starrte ihn verwundert an. Er verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass er nicht ihr widersprochen hatte, sondern Shannon. » Unser Opfer wird nicht tagelang leben, sondern maximal vierzig Stunden.«
» Woher weißt du das?«, fragte Paul verblüfft. Auch die anderen sahen ihn verständnislos an.
» Ich weiß nicht, weshalb es mir erst jetzt wieder einfällt.« Faris versuchte sich die Worte des Anrufers ins Gedächtnis zu rufen. » Aber ich erinnere mich, dass der Unbekannte mehrmals betonte, dass wir den Mann innerhalb der nächsten vierzig Stunden finden müssen…«
8. Kapitel
Alexander
Die Gestalt in der Aureole bewegte sich. Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war, in der Alexander abwechselnd unter dem Kreuz auf dem Boden gesessen hatte oder wie ein gefangenes Tier auf und ab gelaufen war, konnte er in dem blendenden Licht immer noch nicht mehr erkennen als einen menschenähnlichen Schatten.
WIR MÜSSEN ABWARTEN , hatte die Stimme gesagt und danach eine ganze Weile geschwiegen. Alexander glaubte, die Wut zu spüren, die von dem Licht ausstrahlte. Je länger er darüber nachdachte, umso überzeugter war er davon, es mit einem Engel des Herrn zu tun zu haben.
Stand nicht in der Bibel, dass ihr Anblick fürchterlich war?
Der Mann am Kreuz stöhnte, und Alexander schaute zu ihm hoch. Warum fiel es ihm so schwer, ihn als seinen Vater zu bezeichnen?
Das rhythmische Piepsen verursachte ihm Kopfschmerzen.
Da endlich sprach der Engel wieder.
ICH MÖCHTE , DASS DU MIR ERZÄHLST , WIE ES NACH DEM SONNTAG AN WEIHNACHTEN WEITERGEGANGEN IST , forderte er.
Alexander schluckte. Er wollte sich nicht erinnern. Die Erinnerung schmerzte, und am liebsten würde er sie endgültig und für immer vergessen können. Aber der Engel war unerbittlich.
REDE !, befahl er.
Und Alexander gehorchte…
Nach dem Weihnachtstag passiert eine ganze Zeit lang nichts Besonderes. Vater liest in der Bibel. Er betet viel und erzählt auch immer wieder von Gott. Irgendwann bemerkt Alexander, dass sein Vater bei Tisch kaum noch etwas isst. Er knabbert an einem Salatblatt, trinkt einen Schluck Wasser. Und magert ab. Furchterregend schnell.
Dann, als Alexander ihn eines Tages fragt, ob er krank sei, gleitet ein Lächeln über sein Gesicht.
» Nicht mehr«, antwortet er.
Aber Alexander versteht nicht.
» Ich war krank«, erklärt sein Vater ihm. » Hier drinnen.« Er legt die Hand auf die Stelle, an der sein Herz sitzt. » Krank von der Sünde, die darin hauste. Aber das ist jetzt vorbei.«
» Wie kann es vorbei sein, wenn du so schlecht aussiehst?«, fragt Alexander. Die Haut seines Vaters ist grau und zerknittert, wie bei einem sehr alten Mann. Seine Hose schlackert ihm um die mageren Hüften.
» Der Körper ist unwichtig«, belehrt Vater ihn. » Es kommt auf den Geist an. Der Geist ist das Einzige, was zählt. Die Seele. Wusstest du, dass Jesus Christus vierzig Tage lang fastete, um den
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