40 Stunden
ihn gelehrt.
Zwischen Mutters Augenbrauen bildet sich eine steile Falte. » Werner?« Ihre Stimme ist kühl.
Sein Vater rührt sich nicht.
» Was ist mit dem Jungen?« Jetzt zittert Mutters Stimme. » Du hast von ihm verlangt, auch zu fasten, oder?« Sie klingt, als könne sie es nicht glauben. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Alexander kann sich in ihren Pupillen spiegeln.
» Hast du von dem Jungen verlangt, auch zu fasten?«, schreit Mutter.
Doch Vater schüttelt den Kopf. » Nicht ich. Der Herr.«
Da springt Mutter auf. Ihre Serviette fliegt auf den Küchentisch. » Der Junge ist erst zwölf!«, kreischt sie. » Er wächst noch! Auf der Stelle sagst du ihm, dass er mit diesem Unfug aufhören soll!«
Aber Vater schüttelt nur nochmal den Kopf. » Der Teufel lauert überall«, sagt er leise. » Wir müssen ihm Einhalt gebieten!«
Da zerfällt die Maske der Wut auf Mutters Gesicht in tausend kleine Falten. Auf einmal sieht sie grau aus. Grau und leer. » Du Monster!« Sie spricht mit tonloser Stimme. » Dieser Schwachsinn hört auf, oder Alexander und ich werden auf der Stelle ausziehen.«
Vater antwortet nicht, sieht ihr nur stumm ins Gesicht. Einen Moment lang starren sie sich gegenseitig an, dann wirbelt Mutter herum und marschiert mit zornigen Schritten aus der Küche …
Mit einem zittrigen Luftholen verstummte Alexander. Das grelle Licht blendete ihn, und er schlug die Hände vor die Augen.
ES IST GUT , beruhigte der Engel ihn. GLEICH IST ES VORBEI . SAG MIR NUR NOCH , WAS DANN GESCHAH .
Ohne den Blick zu heben, murmelte Alexander: » Am nächsten Tag war sie weg.« Noch heute fiel es ihm schwer, es zu glauben. » Sie hat mich einfach im Stich gelassen. Sie hat mich zurückgelassen. Bei…« Er zögerte, ließ die Hände sinken und wies auf den Mann am Kreuz. » Bei ihm.«
SIE HAT DICH NICHT IM STICH GELASSEN , widersprach der Engel. Täuschte sich Alexander, oder zitterte jetzt auch seine Stimme? HÖR AUF DEINEN VERSTAND . DU WEISST , DASS SIE DICH NICHT IM STICH LASSEN WOLLTE .
Alexander wollte seine Worte nicht hören, wollte nicht daran denken, wohin sie ihn trieben. Er hielt sich die Ohren zu. » Nein!«, rief er aus. » Nicht!«
WAS DENKST DU ?, fragte der Engel.
Doch Alexander weigerte sich, es auszusprechen. Tränen sickerten hinter seinen zusammengekniffenen Lidern hervor. Heftig schüttelte er den Kopf. Auf einmal war er wieder zwölf, und das Schluchzen schüttelte ihn. » Sie ist weg, einfach weg! Und sie kommt nicht wieder. Stattdessen stehen Papa und ich im Garten.«
IM GARTEN , wiederholte der Engel.
» Im Garten.« Alexander öffnete die Augen, starrte so lange direkt und ohne zu blinzeln in das grelle Licht, bis sein Kopf anfing zu schmerzen. Die Schmerzen vertrieben die Qual in seinem Herzen. » Wir haben ein Loch gegraben und es wieder zugeschaufelt. Jetzt ist das Beet ganz frisch.«
****
» Vierzig Stunden.« Paul hatte den Kopf auf die Seite gelegt und dachte nach. » Möglicherweise hat er uns damit einen Hinweis darauf gegeben, was er plant. Weißt du, wann diese vierzig Stunden angefangen haben zu laufen?«, fragte er Faris.
» Bei seinem Anruf. Da war es drei Minuten nach acht.«
Paul stand auf und trat an das Whiteboard, auf dem Ben bereits den ersten Eintrag notiert hatte. Er nahm den Filzschreiber und malte einen kurzen senkrechten Strich auf das Board. » Gehen wir also davon aus, dass das die Stunde Null war.« Ausgehend von dem Strich, zog er eine lange waagerechte Linie und schrieb an deren Ende eine dicke Vierzig. Schließlich rechnete er nach. » Dann sind vierzig Stunden rum… morgen um Mitternacht.«
» Shit!« Es war Shannon, die diesen Fluch ausstieß.
Faris sah seine Kollegen der Reihe nach an. Die Anspannung im Raum war schlagartig gestiegen, das konnte er deutlich spüren.
» Morgen Abend«, fuhr Shannon fort. » Um 23 Uhr beginnt der große Abschlussgottesdienst im Olympiastadion. Um Mitternacht dürfte er gerade in vollem Gang sein.«
Das Olympiastadion! Faris schloss die Augen. Natürlich hatte er von diesem besonderen Gottesdienst gelesen. Er war als der sogenannte Lichtergottesdienst angekündigt und sollte eine wahre Sensation werden. Ein Nachbar hatte ihm neulich erst erklärt, was das Besondere daran war: Während dieses Lichtergottesdienstes würde das erste wirklich ökumenische Abendmahl des christlichen Abendlandes abgehalten werden. Nachdem die katholische Kirche sich fünf Jahrhunderte lang geweigert hatte, evangelischen Christen
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