40 Stunden
Wohnung in Charlottenburg gehabt. Das hier jedoch war irgendwie– schräg!
» Warum ich hier wohne?«
» Ja.«
Hesse wartete mit der Antwort, bis das Wasser kochte. Er nahm den Tauchsieder heraus und goss den Tee auf. Der Duft von Kirschen erfüllte die Luft und verstärkte in Faris noch das irrationale Gefühl. » Nun, weil es keine Miete kostet. Seitdem deine werten Kollegen die Hausbesetzer vertrieben und die Gebäude versiegelt haben, bin ich hier hübsch für mich. Niemand stört. Niemand ahnt auch nur, dass ich da bin.« Er ließ sich auf seine Liege fallen und lehnte sich gegen die Milchglasscheibe. » Perfekt, würde ich sagen.«
Faris runzelte die Stirn. Forschend sah er Hesse an, dann fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto, das inmitten all der Kabel und Geräte stand und dort fast ebenso deplatziert wirkte wie die Teekanne mit dem Rosenmuster. Er nahm es in die Hand und betrachtete es. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau mit breitem glücklichen Lachen und baumelnden Goldohrringen in der Form von kleinen Sternen.
» Ist das die Frau, deretwegen du Berlin verlassen hast?«, fragte er und drehte das Foto so, dass Hesse es sehen konnte. Auf der Rückseite des Rahmens klebte ein Etikett von IKEA , dem zu entnehmen war, dass er einmal 8,99 Euro gekostet hatte.
Hesse starrte einen Moment lang auf das Foto, und ein Schatten flog über seine Gesichtszüge. » Ja«, meinte er nur.
Seit er wieder in Berlin war, hatte Faris schon ein paarmal versucht, mehr über diese Frau herauszufinden, aber der Reporter hatte jedes Mal abgeblockt. Um ihn nicht zu quälen, hatte Faris dann jedes Mal das Thema gewechselt. Obwohl sie sonst über viele Dinge miteinander sprachen, waren Frauen schon früher eher nicht darunter gewesen.
» Sie sieht orientalisch aus«, sagte Faris und stellte das Bild zurück an seinen Platz.
» Hm«, war alles, was er zur Antwort bekam.
Über die Schulter hinweg warf Faris einen Blick durch die geöffnete Tür hinaus in die riesige Abfertigungshalle. Und auf einmal– so plötzlich, dass es Faris fast schmerzlich spürte– bekam die Gemütsverfassung, in der er sich seit Monaten befand, einen Namen. Endzeitstimmung, dachte er. Schlagartig empfand er eine so tiefgreifende Einsamkeit, dass er schauderte. Er ahnte, dass er es hier nicht länger als ein paar Tage ausgehalten hätte, bevor er den Wunsch verspürt hätte, sich eine Kugel in den Schädel zu jagen.
Hesse erhob sich von seiner Liege, nahm das Tee-Ei aus der Kanne, und das Aroma von Kirschen verstärkte sich noch einmal. Dann goss er den Tee in zwei Becher und reichte einen davon Faris. Beinahe im gleichen Moment signalisierten mehrere Computer mit einem Ton, dass sie nun hochgefahren waren. » So«, meinte Hesse. » Jetzt kann es losgehen!« Er rieb sich die Hände. Von einem Moment auf den anderen war er wieder ganz der investigative Journalist.
Faris räusperte sich. Schon die wenigen Sätze über diese unbekannte junge Frau auf dem Bild eben hatten ihn an Laura und ihre verkorkste Beziehung erinnert. Er drehte das verblichene Lederarmband an seinem Handgelenk und unterdrückte ein Seufzen. » Gut. Also, das Ganze gibt eine Story für dich, aber du musst mir versprechen, es erst dann zu veröffentlichen, wenn ich dir grünes Licht dafür gebe!«
Hesse verdrehte die Augen gen Himmel. » Nee, Alter, ich…«
Faris schüttelte sachte den Kopf. » Nein, Niklas. Das ist wirklich wichtig. Versprich es mir!«
Unter seinen strubbeligen Haaren hervor blickte Hesse ihn an. » Aber es ist was Großes? Es geht um die Bombenexplosion in der U-Bahn, oder?«
Faris dachte an ihre Vermutung, dass der nächste Anschlag dem Lichtergottesdienst gelten würde, und überlegte, was von seinem Wissen er preisgeben konnte.
In der Regel wurde eine Veranstaltung abgesagt und die Bevölkerung gewarnt, wenn Grund zu der Annahme bestand, dass dort ein Attentat geplant war. In diesem Fall jedoch würde man mit Entscheidungen solcher Art noch warten, denn man hatte einen konkreten Hinweis, wann es zu dem nächsten Attentat kommen würde. Vierzig Stunden waren eine lange Zeit, und außerdem wusste niemand, wie viele Bomben der Attentäter in der Stadt versteckt hatte und welche davon er in die Luft jagen würde, wenn sie versuchten, seine Pläne zu durchkreuzen.
Was sie dringender als alles andere brauchten, waren mehr Informationen!
» Ja«, antwortete Faris langsam, nachdem er all das durchdacht hatte. » Es geht um die Bombenexplosion in der U-Bahn. Und
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