40 Stunden
Kindheitserinnerungen hing mit dieser Halle zusammen. Er war ungefähr vier gewesen. Seine Eltern waren mit ihm und seiner älteren Schwester Anisah aus Ägypten hier in Tempelhof angekommen. Faris erinnerte sich daran, wie er durch die riesigen gläsernen Türen hinaus ins Freie gestarrt hatte, wo ein stetiger grauer Regen aus einem ebenfalls grauen Himmel fiel– ein Regen, wie er ihn in seinem Leben zuvor noch nie gesehen hatte. Und er erinnerte sich auch daran, dass er sich umgedreht und gesehen hatte, wie seiner Mutter Tränen über das Gesicht liefen. Es war das erste Mal gewesen, dass er sie überhaupt je weinen gesehen hatte. Damals hatte er sich gefragt, wie die Regentropfen von draußen auf die Wangen seiner Mutter gekommen waren.
» Beeindruckend, nicht wahr?«
Faris erschrak. Er war so in der Vergangenheit versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Hesse neben ihn getreten war. Das Förderband für die Koffer der Reisenden befand sich noch an Ort und Stelle, und auch die Abfertigungsschalter rechts und links an den Längswänden waren erhalten geblieben. Allerdings hatten die Hausbesetzer die Scheiben und Wände der kleinen Gelasse bunt bemalt, sodass sie wie eine Ansammlung von Hippiehäusern wirkten. Vor einem von ihnen standen zwei vertrocknete Yuccapalmen herum, überall in den Ecken lagen Dreck, leere Flaschen, Plastiktüten, Unrat aller Arten.
» Ich dachte, wir hätten die Kommune geräumt«, murmelte Faris.
Hesse umfasste das riesige Areal mit einer besitzergreifenden Geste. » Habt ihr auch. Ich bin erst danach gekommen.« Er sah Faris an. » Komm mit.«
Sie gingen quer durch die Halle und eine der beiden Treppen hinauf, die früher zu dem Restaurant an der Stirnseite geführt hatten. Hier oben gab es auf einer Art Galerie weitere Büros. In der Luft lag ein seltsamer Geruch, eine Mischung aus den Ausdünstungen der uralten Bodenbeläge und dem vor sich hin schimmelnden Abfall. Faris verzog angeekelt das Gesicht.
Hesse führte ihn über die Galerie zu einem der Büros. Die Tür war, im Gegensatz zu denen der anderen, sorgsam mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Der Reporter kramte einen Schlüssel hervor, öffnete das Schloss und bat Faris einzutreten.
» Wow!«, sagte Faris zum zweiten Mal, als er über die Schwelle trat.
Das ehemalige Büro war vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß und mit einem blauen Teppich ausgelegt, der ebenso wie die Beläge draußen auf den Gängen seine beste Zeit lange hinter sich hatte. Jeder einzelne Zentimeter des Bodens war ausgenutzt. Mindestens ein halbes Dutzend Computer standen herum, teils auf einem extrem massiven Eichenholztisch, der aussah wie vom Sperrmüll, teils einfach auf der Erde. Dicke Kabelstränge wanden sich über den Boden, verschwanden in alten Kabelschächten oder in schwarzen Kästen, an deren Stirnseiten kleine Leuchtdioden grün und rot blinkten. Außer den Computern gab es noch eine schmale Pritsche, die unter den Milchglasscheiben gegenüber der Tür stand, und eine alte Küchenzeile, die ganz offensichtlich von den Betreibern jener Fluggesellschaft übrig geblieben war, die früher hier residiert hatte. Alles in allem sah der Raum genauso aus, wie sich Faris das Domizil eines Computerfreaks vorstellte. Sobald man die Tür hinter sich schloss, vergaß man recht schnell, wo man sich eigentlich befand.
Hesse legte Faris’ Laptop auf den Eichenholztisch, dann zog er einen alten Schreibtischstuhl hervor und stieß ihn Faris vor die Füße. » Setz dich! Ich muss die Computer erst hochfahren, das dauert einen Moment. Inzwischen mache ich uns einen Tee, und dann können wir starten.« Er ging zu der Küchenzeile, füllte Wasser aus einem großen Plastikkanister in eine Kanne und steckte einen alten Tauchsieder hinein.
» Der Strom funktioniert noch?«, fragte Faris verwundert. Er ignorierte den angebotenen Stuhl und blieb stehen.
Hesse nickte, während er in einem der Schränke nach einer Dose mit Tee kramte. » Ich musste ein bisschen was basteln, aber ja. Leider würde es auffallen, wenn ich die Computer allesamt durchlaufen lassen würde, darum schalte ich sie zwischenzeitlich immer wieder ab.« Er löffelte den losen Tee in ein angelaufenes Tee-Ei und hängte es in eine Porzellankanne mit Rosenmuster, die an diesem Ort so fehl am Platze wirkte wie ein Perserteppich in einem Obdachlosenheim.
» Warum hier?« Faris sah sich um und verspürte einen Anflug von Irrationalität. Früher hatte Hesse eine kleine
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