40 Stunden
ihrer Kirche in der vorderen Bankreihe saß und verzweifelt versuchte zu beten. Obwohl der Gekreuzigte auf dem Bild den Kopf hängen ließ, fühlte Ira sich von ihm stets wie durchleuchtet. Manchmal fragte sie sich, ob der Maler genau das beabsichtigt hatte. Die grausamen Einzelheiten der Kreuzigung jedenfalls hatte er gut eingefangen: den ausgemergelten Körper, die weit aufgespannten Arme, die hervorstehenden Rippen und die schmerzhaft verkrümmten Hände, durch die Nägel getrieben worden waren. Die Dornenkrone. Iras Blick wanderte über die langen, wie Klingen aussehenden Dornen, die sich in das Fleisch des Gekreuzigten bohrten. Beim Anblick des Blutes, das ihm in Strömen über das Gesicht bis hinunter zum Hals lief, wurde ihr schlecht.
Das war neu.
Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, die Enge in ihrer Kehle wegzuschlucken. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die roten Seile, die zu hitzigen Diskussionen unter den Gemeindemitgliedern geführt hatten, als das Bild vor Jahren aufgehängt worden war.
» Eigentlich pervers«, murmelte sie zu sich selbst. Sie war froh, dass sich im Moment außer ihr keine Menschenseele in der Kirche aufhielt. So konnte sie ungestört hier sitzen, konnte versuchen, endlich wieder einmal ein Gebet aus vollstem Herzen zu sprechen. Und vor allem konnte sie ihren rebellischen Gedanken nachhängen, ohne Angst haben zu müssen, deswegen ihren Job zu verlieren.
Sie verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. Was würden wohl ihre Gemeindemitglieder sagen, wenn sie wüssten, dass ihre hochverehrte Frau Pfarrerin Tag für Tag mit ihrem Glauben rang? Mehr noch! Dass sie ihn verloren hatte! Die alte Frau Feldbusch vom Kirchenvorstand hätte in null Komma nichts einen Beschwerdebrief an die Landeskirche geschrieben und um einen neuen Seelsorger ersucht.
Seufzend senkte Ira den Blick auf ihre Hände. Sie hatte sie nicht gefaltet, das schaffte sie nur noch, wenn sie vor der Gemeinde stand und einen Gottesdienst abhielt, denn dann musste sie den Schein wahren. Jetzt jedoch, so ganz allein in der Kirche, kam ihr diese kleinkindliche Geste absurd und völlig sinnlos vor.
» Tja, Gott«, murmelte sie. » Was nun?«
Sie erhielt keine Antwort. Sie erwartete auch keine. Sie hob den Kopf wieder und starrte auf das Gemälde. Er hatte seinen einzigen Sohn solchen unbarmherzigen Martern ausgesetzt, was machte es da schon, dass er ihr nicht den richtigen Weg wies? Dass er ihr Thomas weggenommen hatte…
Thomas!
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
» Der Herr ist ein barmherziger Gott, er wird dich nicht verlassen.« Der Spruch aus dem fünften Buch Mose kam ihr erstaunlich leicht über die Lippen. Sie unterdrückte ein bitteres Lachen.
Ein Klicken verriet ihr, dass jemand die hintere Kirchentür geöffnet hatte. An den lauter werdenden Schritten erkannte sie, dass es nur die Pfarrsekretärin sein konnte, die sich dort näherte.
Ein leises Räuspern erklang.
Ira schloss die Augen.
Veronika Herzog glaubte, dass ihre Chefin betete, wenn sie sich allein in die Kirche zurückzog. Nicht einmal ihre Sekretärin, der Mensch, mit dem Ira mit Abstand die meiste Zeit verbrachte, seit sie Thomas verloren hatte, ahnte etwas davon, dass sie längst vom Glauben abgefallen war.
» Ira?« Veronikas Stimme klang unsicher. » Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber es ist wichtig…«
Ira blieb noch einen Moment regungslos sitzen. Ihre Lider fühlten sich tonnenschwer an. Sie musste sich zwingen, sie wieder zu heben, und als sie sich zu ihrer Sekretärin umdrehte, brannten ihre Augen.
» Du liebe Güte!«, entfuhr es Veronika. » Ich wollte nicht…«
Ira zwang sich zu einem Lächeln und blinzelte das sandige Gefühl fort. » Schon gut! Ich war sowieso fast fertig.« Fertig! Sie verspürte einen Anflug von galligem Humor. Das war der passende Ausdruck für ihren Gemütszustand.
» Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen, Ira«, begann Veronika, » dann brauchen Sie dringend etwas, das Sie von diesem Thomas ablenkt. Eine neue Beziehung am best…«
» Was gibt es, Veronika?«, unterbrach Ira sie scharf. Sie hatte nicht die geringste Lust, ausgerechnet mit ihrer Sekretärin über ihre Sehnsucht nach dem Mann zu reden, den sie bis vor Kurzem noch für ihre große Liebe gehalten hatte.
» Natürlich.« Veronika schluckte. » Ich… Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich das selbst ansehen.«
Ira folgte Veronika ins Freie. Die im Stile eines griechischen Kreuzes gebaute Kirche
Weitere Kostenlose Bücher