41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
Setz dich ins Gästezimmer, ich bringe dir ein Glas Wasser.“
Hendrik nickte dankbar und nahm auf dem weißen Ledersofa Platz. Er musterte das Zimmer, in dem ihm jeder Blumenstock, jedes Möbelstück, jedes Bild und jede von Louise selbst entworfenen und hergestellten Keramikschalen und –vasen so vertraut waren. In der kunstvollen Schale am Glastisch funkelten verlockend Schokobonbons in ihrer silbernen Hülle. Louise kam mit einem beschlagenen Glas Wasser, ging zu ihrem zierlichen Beistelltischchen und schenkte aus einer ihrer geschliffenen Karaffen Armagnac für Hendrik ein. Sie selbst fand, es wurde Zeit für ihre erste Zigarette des Tages.
Sie setzte sich Hendrik gegenüber in einen bequemen Stuhl, passend zum Sofa, und er registrierte mit ein klein wenig Melancholie im Herzen, dass sie wohl nie mehr neben ihm sitzen würde. Louise sah ihn auffordernd an.
„Louise, Luc war heute Nacht außer sich. Er schrie einige Male vor Angst, nässte in sein Bett und lag in Erbrochenem, als ich ihn am Morgen wecken wollte. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob dir gestern an ihm irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist?“
Louise hatte aufmerksam zugehört und verstand Hendriks Besorgnis. Luc war sein einziger Sohn, so schwer beeinträchtigt, dass er seinem Vater nicht mitteilen konnte, wenn es ihm nicht gut ging. Es war naheliegend, dass Hendrik sich an sie wandte, vor allem, weil er wahrscheinlich ihre Grobheit bemerkt hatte, als sie Luc entlassen hatte. Sie entschied sich, so nahe wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
„Er war tatsächlich etwas unruhiger als sonst. Aber er kam mir nicht krank vor, ich war keinesfalls in Sorge. Manchmal versucht er, engen Körperkontakt herzustellen und das ganz schön vehement. Du weißt, darauf lege ich keinen großen Wert. Ich mag es einfach nicht und weise ihn dann zurecht. Vielleicht war es das, was ihn noch weiter bis zum Schlafengehen beschäftigt oder verängstigt hat. Außerdem hat er mir mein neues Kleid mit Schokospucke verschmutzt und ich hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen. Du weißt, wie sehr ich es verabscheue, in solch ungepflegtem Zustand meine Freunde zu empfangen.“
Hendrik erschien Louises Sicht der Dinge augenblicklich beruhigend. Ihre sachliche Darstellung und Ausgeglichenheit machten ihn dankbar und er entspannte sich ein wenig. Vielleicht hatte Luc ja tatsächlich einen Virus eingefangen und er sollte doch den Arzt konsultieren.
Es gab tausend verschiedene Erklärungen für Lucs Verhalten und jede war ihm lieber, als der Hass, den er in Louises Augen am Tag zuvor gesehen hatte.
Und so ließ Hendrik zu seinem eigenen Schutz die barmherzigen Lügen im Raum stehen.
Louise
Louise war perplex gewesen, als sie Hendrik am Bildschirm erkannte. In den letzten vierzig Jahren hatte er es noch nie gewagt, unangemeldet bei ihr zu erscheinen und sie hatte augenblicklich den Grund dafür erkannt. Daher hatte sie ihm keine Vorwürfe wegen seines plötzlichen Kommens gemacht, hatte sich auch nicht damit aufgehalten, ihm zu erklären, wie beschäftigt sie freitags immer war. Das alles wusste er ohnehin und er hatte es sich über die langen Jahre hinweg verdient, dass sie ihn anhörte. Er war ihre Konstante, hatte ihr geholfen, ihr Geschäft aufzubauen, war mit ihr gealtert und ein ehrlicher Freund. Er vertraute ihr vollkommen, so sehr, dass er ihr sogar Luc vererbte.
Was sie mit diesem Erbe anzustellen gedachte, würde er Zeit seines Lebens nicht erfahren. Louise hatte bereits unter falschem Namen einen Platz in einem vornehmen Pflegeheim für Luc reservieren lassen. Gegen eine jährliche, großzügige Unterstützung hatte sich der Leiter des Heimes davon überzeugen lassen, wie überaus dankbar und wohlgesonnen sie der Anstalt und einem jederzeit verfügbaren Zimmer gegenüberstand. Sie hatte nicht vor, sich ihren Lebensabend mit einem spuckenden, krampfenden, in Windeln gepackten Erwachsenen zu verderben, dessen einziger Lebenssinn sich in Essen und Verdauen erschöpfte. In absehbarer Zeit plante sie, Paris zu verlassen und in ihren Plänen kam ein sabbernder, furzender Luc mit Sicherheit nicht vor. Sollte Hendrik vor ihrer Abreise sterben, hatte sie mit dem Heimplatz für Luc vorgesorgt. Sollte er danach sterben, musste er eine neue Pflegemutter suchen. Bei seinen Reichtümern sollte das wirklich kein Problem sein.
Als Hendrik beruhigt und wieder einigermaßen bei Kräften ihre Wohnung verlassen hatte, räumte sie zum zweiten Mal an diesem Tag das
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