41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
und Taxifahrern gesehen worden – nur nicht von den werten Damen. Marta hielt er für zu dumm, Alette für zu schlau, um zu lügen, aber Louise spielte in einer anderen Liga. Sie war die Grande Dame, unantastbar geschützt unter dem aufgeplusterten Gefieder des Präsidenten. Marcel hatte Erkundigungen über sie eingezogen: Mit sechzehn hatte sie im Bistro als Putzhilfe angefangen, in einer Besenkammer im Haus Nummer 41 gewohnt und dort zwischen Ratten und verschimmelten Essensresten auf einer stinkenden Matratze ihre ersten geheimen Freier bedient. In kurzer Zeit hatte sie es in ein Zimmer im ersten Stock und im Bistro hinter die Bar geschafft. Ihr attraktives Äußeres, ihre Diskretion sowie ihre Bereitschaft, dem jeweiligen Kunden keinen Wunsch abzuschlagen, machten sie unter all den anderen billigen Straßennutten zu etwas Besonderem. Zusätzlich wusste sie ihren Wert dadurch zu steigern, dass sie sich strikt nur einer bestimmten Anzahl von Männern annahm. Zwanzig war die magische Zahl. Erst wenn einer von ihnen in einen anderen Ort verzog, sich einer anderen Dirne zuwandte oder verstarb, nahm Louise wieder einen neuen Mann auf. Ihr Kundenkreis wuchs, sie war begehrt, hatte die Wahl und niemals einen Zuhälter. Sie wusste sich mit Peitsche und Messer selbst zu schützen, suchte ihre Gäste sorgfältig unter dem Aspekt finanzieller Voraussetzungen und gesellschaftlicher Stellung aus und bildete sich selbst in namhaften Bordellen weiter. Jetzt mit nahezu sechzig Jahren war sie die Eigentümerin des Hauses Nummer 41, hielt es wie sich selbst gepflegt und modern, vermietete an Marta und Alette gegen ein Butterbrot und hatte trotz ihres Alters noch immer die Wahl unter zahlreichen, mittlerweile ebenfalls in die Jahre gekommenen Managern, Bankdirektoren, Industriellen oder Polizeipräsidenten (wie der Ermittlungsleiter zwar nicht mit Sicherheit wusste, aber doch davon überzeugt war). Sie war attraktiv älter geworden, machte alle drei Monate zwei Wochen Urlaub in Frankfurt bei Verwandten, leistete sich keine Skandale und verwickelte auch ihre Kunden in keine. Ihre Lieblingsbeschäftigung war Töpfern, Lieferanten, Mietwagenservice und die alte Witwe in Anchieu waren hinreichend überprüft worden. Einige ihrer Stammfreunde waren unter der Zusicherung höchster Geheimhaltung über sie befragt worden, von allen kamen übereinstimmend nahezu euphorisch dieselben Aussagen: Eine feine Dame, attraktiv, humorvoll und großzügig, gewählte Ausdrucksweise, Gesicht, Hände und Füße ständig unter strenger Aufsicht eines kostspieligen Kosmetiksalons, keine Eskapaden, keine Kinder, nur Verwandte in Deutschland. Ihre Finanzen wurden von einem über jeden Zweifel erhabenen Bankdirektor aus St. Etienne höchstpersönlich verwaltet. Ihr offizielles Einkommen bezog sie aus den Erträgen ihrer Töpferei.
Es war das erste Mal in seiner Karriere bei der Polizei in Paris, dass Marcel auf eine Person mit dermaßen weißer Weste, gutem Ruf und tadellosem Lebenswandel stieß. Da all ihre Gäste sich als Freunde bezeichneten und bis jetzt nichts Gegenteiliges bewiesen werden konnte, machte sie sich nicht einmal der illegalen Prostitution schuldig, obwohl jeder wusste, dass sie ihre Gäste nicht nur mit intellektuell anspruchsvollen Diskussionen erfreute. Nur erwischen lassen hatte sie sich noch nie.
Das wollte auch er nicht. Was er wollte, war mit ihr zu reden. Sie nicht befragen, sondern sich von ihr erzählen lassen mit ihrer ruhigen, wohltuenden Stimme. Dabei in ihre wissenden Katzenaugen blicken, vielleicht von ihrer erfahrenen Hand an seiner Wange kurz berührt werden.
Es war bereits Abend, aber er musste sie sehen. Jetzt gleich.
Louise
Bei dem Besucher, der hartnäckig ihre Türklingel malträtierte, handelte es sich ganz bestimmt nicht um Marta, Alette oder Hendrik. Jeder von ihnen hätte es spätestens nach zehn Minuten aufgegeben, darauf zu hoffen, dass sie öffnete. Es war bereits nach acht Uhr und sie war nun neugierig geworden. Am Bildschirm im Flur war im kaltblauen Neonlicht das gräuliche Gesicht des Ermittlungsleiters erschienen. Louise schmunzelte. Clever, der Bursche, dachte sie, und nicht einmal der Hässlichste.
Sie drückte wortlos auf den Türsummer, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen und erwartete ihren ungebetenen Gast barfuß, in ausgeleiertem, mit Ton und Staub beflecktem Shirt (darunter wie gewohnt nichts), eierschalenfarbenen Chirurgenhandschuhen über ihren für die
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