41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
Marseille stolz seine Hazienda nannte. Von ihrer Mutter war ihr hauptsächlich der unablässig prall geschwängerte Bauch im Gedächtnis eingebrannt geblieben; eine harte, schweigsame Frau, die tagaus tagein von früh bis spät in der Küche, am Waschzuber, auf den Feldern oder in den Ställen ihrer mühevollen Arbeit nachging (und nachts unter der noch mühevolleren Last ihres gewalttätigen Ehemannes litt).
Louise war eine der ältesten Schwestern und durfte zwei Jahre lang die Schule besuchen, bevor sie mit zehn Jahren zur Arbeit am Hof eingeteilt wurde. Ihr machte die beschwerliche Arbeit nicht viel aus. Sie behandelte die Tiere liebevoll, genoss den Geruch frisch gemähten Heus, durchstreifte die Wälder auf der Suche nach Beeren und Pilzen und ging auch der Mutter bei der nie enden wollenden Hausarbeit zur Hand. Für sie war ein Leben in der Stadt und damit Eltern, Geschwistern und dem tristen Bauerndasein den Rücken zu kehren, unvorstellbar.
Als sie mit zwölf Jahren ihre erste Periode bekam, beschloss der Vater, dass nun endlich sie an der Reihe war, geschwängert zu werden und er machte sich unverzüglich und voll Eifer ans Werk. Bei ihren zwei älteren Schwestern war er bereits erfolgreich gewesen, allerdings waren beide seiner Kindeskinder ohne Gliedmaßen und mit viel zu großem Kopf zur Welt gekommen. Er hatte sie wie die neugeborenen Stallkätzchen im Waschzuber ertränkt und anschließend mit Hilfe der jüngeren Söhne auf den Feldern verscharrt. Er war von der hervorragenden Qualität seines einzigartigen Erbgutes so überzeugt, dass er den beständigen Drang verspürte, sich fortwährend zu vermehren. Da seine Ehefrau aber unausgesetzt schwanger ging, sah er ungeahnte Möglichkeiten darin, die eigenen Töchter mit seinem wunderbaren Samen zu beglücken.
Bei Louise indes schien es nicht so richtig mit einer Schwangerschaft zu klappen, so sehr und so oft er sich auch bemühte.
Louise machte auch der exzessive Missbrauch nicht viel aus, sie war mit ihm aufgewachsen, kannte den Verlauf von ihren Schwestern und ihrer Mutter. Die nächtlichen Übergriffe in der kargen Kammer über dem Stall, in der die geschlechtsreifen Töchter schliefen, gehörten zum Familienalltag und waren so selbstverständlich wie der sonntägliche Kirchgang ins nahe Dorf.
Einmal im Monat machte sich die gesamte Familie auf den Weg in den Hafen von Marseille. Sie zogen Karren hinter sich her und trugen Säcke und Beutel auf dem Rücken, die beladen waren mit Eiern, saurer und süßer Sahne, geräuchertem Schinken, geschlachteten Hähnchen oder sonstigen Produkten, die sie auf ihrem Hof selbst herstellten. Sie stellten ihre Holzkarren entlang des Hafenkais auf und verkauften von da aus ihre Waren.
Louise war bereits als Kind eine Schönheit, mit dichtem, rotblondem Haar, weißer Haut, der auch die pralle Sonne trotz der schweißtreibenden Feldarbeit nichts anhaben konnte, unergründlichen Katzenaugen und einer modellierten, weiblichen Figur. Sie zog die begehrlichen Blicke von Fischern, Hafenarbeitern und Matrosen magnetisch an, aber auch Eigentümer von Reedereien oder betuchte Reisende konnten sich ihrer Anmut nicht entziehen.
Regelmäßig war ihr Karren als erster leer gekauft. Auch nach ihrem Körper war die Nachfrage groß, doch obwohl die stattlichen Preise, die für Louise geboten wurden, verlockend waren, widerstand der Vater der Versuchung, sie für ein paar Stunden an den Höchstbietenden zu verkaufen. Zu groß war seine Angst davor, Louise könnte von einem der feinen Herren erfolgreicher befruchtet werden als von ihm selbst.
Louise war noch keine sechzehn Jahre alt, als sie eigenartige Veränderungen an ihrem Körper wahrnahm. Sie war anfangs verängstigt und erschrocken, wusste aber instinktiv, was diese Veränderungen zu bedeuten hatten und zugleich keimten zarte Sprossen ersten Widerstands gegen ihr Schicksal auf. Als ihre Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen war, war der Vater außer sich vor Freude und wandte sich umgehend ihrer nächstjüngeren Schwester zu.
Einige Tage vor der Geburt verweigerte Louise ihre Mitarbeit auf den Feldern und im Haus. Sie hatte den Entschluss gefasst, ihre Familie zu verlassen und noch Vorbereitungen für ihre heimliche Flucht zu treffen. Einige Kleiderlumpen sowie ein paar vom Karrenverkauf abgezweigte Münzen mussten noch in einem Polsterüberzug versteckt, aus der Speisekammer unbemerkt ein Messer, Speckschwarten, Brotscheiben und Käseecken geschmuggelt werden. Außerdem
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