41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
noch persönlich.
Er fand sie zugleich anziehend und abstoßend. Sie war sehr intelligent, das musste er widerwillig zugeben, und deshalb würde es äußerst schwierig werden, ihr die Bekanntschaft mit den abgängigen achtzehn Männern nachzuweisen. Dass sie alle gekannt haben musste, stand für ihn fest. Alles andere war schier unmöglich. Was den Fall noch zusätzlich erschwerte, war die Tatsache, dass sämtliche Louises Freunde, Gäste, oder wie auch immer sie die Männer zu bezeichnen beliebte, aus hochrangigen Gesellschaftsschichten stammten, wohlhabend wenn nicht sogar reich und zumeist verheiratet, politisch oder wirtschaftlich einflussreich und deshalb verschwiegen wie ein (wahrscheinlich bald ihr eigenes) Grab waren.
Seitens des Polizeipräsidenten gab es nicht nur den Hinweis, sondern sogar den Befehl zu höchster Vorsicht und Diskretion bei den Ermittlungen, mit Rücksicht auf die angesehenen Familienangehörigen. Er muss wohl am meisten auf seinen eigenen Ruf achten, der alte Sack, dachte Marcel und sah, dass in Louises Wohnung in beinahe allen Räumen die Lichter brannten und trotz der geschlossenen Vorhänge durch die Fenster schimmerten. Sie würde gerade ihre Gefäße brennen und bemalen, alles für den Markttag fertig stellen, sich selbst wieder auf Vordermann bringen und, wenn er Glück hatte, vielleicht hin und wieder an ihn denken.
Er hatte noch nicht die leiseste Idee, wo er ansetzen sollte. Wie er ihr auf den Zahn fühlen konnte, ohne dass sie es erfahren oder sofort selbst bemerken würde. Eine Möglichkeit wäre, mit seinem Neffen zu sprechen. Vielleicht war ihm ja irgendetwas aufgefallen, als er die defekte Leitung in ihrem Haus repariert hatte. Unwahrscheinlich, aber möglich.
Langsam tat der Alkohol seine Wirkung. Er würde den Wagen stehenlassen müssen, ein Taxi nach Hause nehmen und morgen früh von einem Streifenpolizisten das Dienstauto abholen lassen. Er wollte auch nicht mehr über Louise nachdenken, heute kam er sowieso nicht mehr weiter.
Fest stand für ihn lediglich, dass er sie in Hinkunft beobachten wollte. Mehr über ihr Leben und ihre Liebhaber erfahren wollte.
Auch über sich selbst und seine beunruhigenden Gefühle zu ihr.
Samstag
Louise
Als am Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe der Lieferwagen der Mietwagenfirma vorfuhr, war Louise bereit für ihren heißgeliebten Markttag. Sie trug bequeme Jeans und Turnschuhe, ein enges weißes T-Shirt, darüber ein bunt kariertes Männerhemd mit vielen Taschen, das ihr zwar ein wenig zu groß war, ihr aber genau deshalb einen Hauch von Jugendlichkeit verlieh. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel und im Sonnenlicht in verschiedenen Schattierungen glänzte. Für den bevorstehenden sommerlichen Tag hatte sie ein leichtes Makeup gewählt, keinesfalls sollten sich in der Hitze unappetitliche Schlieren in ihren Gesichtsfalten auf Stirn und entlang der nicht mehr ganz so straffen Wangen festsetzen.
Während der junge Angestellte der Mietwagenfirma ihre Kisten in den Wagen einlud, machte Louise noch einen kleinen Kontrollrundgang durch ihre geräumige Wohnung um zu prüfen, dass alle Haushaltsgeräte ausgeschaltet, die Fenster für den Fall eines Sommergewitters geschlossen, sämtliche Schalter am Brennofen auf „Aus“ zum Abkühlen gestellt und auch sonst alle Dinge an ihrem rechten Platz waren. Nachdem sie ihre Wohnungstüre doppelt versperrt hatte, entließ sie den Jungen mit reichlich Trinkgeld, kletterte über die Einstiegshilfe in den hohen Wagen und machte sich auf die Reise.
Während sie durch die noch schlafende und daher kaum befahrene Innenstadt von Paris fuhr, stellte sie verwundert fest, dass sich ihr gewohntes Hochgefühl noch nicht wie erwartet eingestellt hatte. Ihr waren derartige Stimmungstiefs nicht unbekannt und meist ließen sie sich einem besonderen Ereignis oder hormonellen Schwankungen zuschreiben. Diesmal jedoch konnte sie sich die Ursachen nicht erklären.
Sie verfiel in zusammenhanglose Grübeleien und als sie die Stadtgrenze der Weltmetropole hinter sich gelassen hatte und sich vor ihr die Landschaft mit zunehmend ländlichem Charakter auszubreiten begann, überfielen sie unvermittelt die qualvollen Erinnerungen mit unbarmherziger Wucht und grausamer Deutlichkeit.
Louise war eines von ungefähr vierzehn Kindern eines zwar armen, aber dennoch ständig schwer betrunkenen Bauern, der einen abgelegenen, verkommenen Bauernhof in den Außenbezirken von
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