41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
musste sie sich ihre Kräfte für die bevorstehende Niederkunft aufsparen und ein wenig schonen.
Mit der ersten Wehe, die glücklicherweise mit dem Untergang der Sonne zusammentraf, verließ sie den Hof und machte sich zu Fuß in den Hafen von Marseille auf. Dort gebar sie hockend hinter einem miefenden Fischcontainer in der Schwärze der Nacht ihr Kind, die Zähne fest in die Speckschwarte verbissen, um ihre verzweifelten Schmerzenslaute zu dämpfen. In der Finsternis konnte sie den Säugling kaum erkennen, sie nahm ihn nicht auf oder drückte ihn an sich, sondern schnitt zitternd mit dem alten Messer die Nabelschnur durch, packte das winzige Menschenkind an den Füßchen, hielt es kopfüber, gab ihm einen Klaps auf den Rücken und wartete auf den ersten quäkenden Schrei. Sie steckte das Neugeborene in den Polsterüberzug, umwickelte es mit ihren Lumpen und legte es neben dem Container auf den vom Nachttau feuchten Boden. Mit jedem Schritt, den sie sich entfernte, wurde das Schreien des Kindes leiser, sie blickte nicht zurück, sondern begab sich auf die Suche nach einer Regentonne, um sich zu säubern. Im Schatten einer Kaimauer wurde sie fündig und sie begann gerade, sich mit Fetzen ihres Unterrocks das Blut von Schenkeln und Unterleib zu wischen, als aus einer der Hafenkneipen ein Betrunkener in ihre Richtung stolperte, sie erblickte und johlend auf sie zu torkelte.
„Heut‘ is dein Glückstag, Dirne!“, grölte er und zerrte an ihrem beschmutzten Kittel. Sie trat nach ihm – halbherzig, völlig entkräftet und erschöpft.
„Oho, du Schlampe, willst mich treten? Na, ich werd’s dir geben, du geiles Luder!“
Er stürzte sich auf sie und versuchte, mit seinen schwieligen, verdreckten Fingern an ihren Haaren und Kleidern zu reißen.
Sie ließ sich auf die Knie fallen, umklammerte mit dem rechten Arm seine Unterschenkel und presste ihm mit der linken Hand ihr blutverschmiertes, verrostetes Messer gegen den Unterleib.
„Hilf mir oder ich schneid‘ dir deine Eier ab“, flüsterte sie rau. „Lass ihn los, du dummes Gör!“ Zwei Hände krallten sich in Louises Schultern und rissen sie so vehement zurück, dass ihre Finger sich von den Knien des Betrunkenen lösten und sie in die Gülle auf dem Kopfsteinpflaster kippte. Dort blieb sie zusammengekauert liegen, resigniert und kraftlos, in Erwartung unvermeidlicher Schläge oder Tritte.
„Verschwinde nach Hause, Pierre! Du bist stockbesoffen und siehst ja schon Gespenster!“ Die rauchige Stimme hinter Louise klang alt, aber kräftig und furchtlos. Der Betrunkene flüchtete wortlos und tauchte in die dunklen Schatten der Gassen ein.
Louise lag immer noch am Boden, in der linken Hand das Messer fest umklammert. Eine gnädige Dunkelheit hatte sich über sie gelegt und sie atmete flach, während ein unaufhörliches Rinnsal an Blut sich unter ihrem verschmutzten Bauernkittel ausbreitete.
Die alte Hure
Die Zeiten waren hart und mit zunehmendem Alter wurden sie immer grausamer und dieses wunderschöne Gesicht stellte eine zusätzliche Bedrohung für das erbarmungslose Geschäft der Hafendirnen dar.
Sie musste diese Kleine los werden und zwar schnell. Natürlich könnte sie sie hier liegen und verrecken lassen, aber das verbot ihr die Berufsehre. Wenn sich nicht einmal mehr Huren untereinander halfen, wer sollte ihnen denn dann beistehen?
Also lief sie, so schnell ihre von Gicht, Rheuma und mangelhafter Ernährung verkrüppelten Beine sie trugen, zur nächsten Hafenkneipe, zerrte eine sich sträubende junge Dirne vom Schoß eines lautstark protestierenden Matrosen und befahl ihr mitzuhelfen, das blutende Ding in ihre beengte Maisonette über der Kneipe zu tragen.
Dort entkleideten und wuschen sie Louise und richteten ihr am Boden in der Diele aus alten Polstern und Decken ein Schlaflager.
Die alte Hure hatte keine sichtbaren Verletzungen an Louise feststellen können, aber von ihren geschwollenen Brüsten milchige Tropfen rinnen sehen. Sofort war ihr alles klar.
Louise erwachte das erste Mal beim Morgengrauen, als die Alte versuchte, ihr bitteren Tee und etwas trockenes Brot durch die bleichen und eingefallenen Lippen zu schieben.
„Du kannst hier bleiben, bis du dich ein bisschen erholt hast.“ Sie sprach nicht unfreundlich mit Louise, aber ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass Louise nicht willkommen war und keinen Tag länger als unbedingt erforderlich bleiben durfte.
Die nächsten Tage wurde Louise mit nahrhaften Lebensmitteln,
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