41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
zeigte, in der noch das Geld war und erklärte, dass der Junge schwer krank sei, holte er den Hausherrn. Dieser war ein nobler, älterer Herr und begriff sofort. Er ließ eine Limousine holen und fuhr selbst. Auf dem Weg in die Rue Loubert schilderte ich ihm, was vorgefallen war und er wirkte äußerst besorgt. In meiner Kammer hatte sich der Junge in der Zwischenzeit auch noch übergeben. Er war kreidebleich und atmete kaum noch. Sein Sohn sei schwer zuckerkrank, erklärte mir der Arzt, und er gab ihm sofort zwei Spritzen. Wir zogen ihn zusammen aus, reinigten ihn notdürftig, wickelten ihn in eine Decke und legten ihn vorsichtig auf die Rückbank des Wagens. Der Arzt dankte mir für meine Umsicht und dass ich ihn persönlich geholt hätte. Er bat mich noch schnell um Verschwiegenheit und fuhr mit dem Jungen ins Krankenhaus. Am nächsten Abend klopfte er an meine Kammer und brachte mir Geld als Entschädigung für die Verschmutzungen, die sein Sohn bei mir hinterlassen hatte und als Dank, dass ich ihm das Leben gerettet hätte. Ich war wie verrückt vor lauter Freude über das kleine Vermögen und ließ ihn wissen, dass ich mir nun endlich ein schönes Zimmer im ersten Stock des Hauses Nummer 41 mieten könnte. Er ersuchte mich nochmals um Diskretion und einen Monat später besuchte er mich in meinem neuen, sauberen Zuhause. Er kam als Gast und ging als Freund. Von da an ging es mit mir bergauf. Er schickte viele seiner Bekannten zu mir, das Niveau meiner Klientel erlaubte mir, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen. Dann kam eines Tages Hendrik auf Empfehlung des Arztes, da er impotent geworden war. Mit Hendrik begann für mich eine neue Zeitrechnung.“
„Nette Geschichte, wie im Märchenbuch“, kommentierte Marcel lakonisch.
„Wenn Sie die Arbeit einer Hure als Geschichte aus dem Märchenbuch verstehen, sind Sie vielleicht doch nicht so reif, wie ich gedacht hatte.“ Louise klang nicht beleidigt, auch nicht zornig. Was Marcel innerlich zusammenzucken ließ, war die nüchterne Feststellung, unterlegt mit einer Nuance Mitleid.
So, als ob sie ihn bedauern würde, dass er zu dumm wäre, um das Elend und die Entwürdigung hinter der Fassade zu begreifen. Er konnte seine gedankenlose Bemerkung nicht mehr rückgängig machen und eine Entschuldigung wäre unglaubwürdig. Er entschloss sich, ihre Zurechtweisung einzustecken und besser ein wenig abzulenken.
„Was war an Hendrik so besonders?“
Louise akzeptierte den Themenwechsel in der ihr eigenen Art. Unaufgeregt, gelassen, ruhig.
„Hendrik war dankbar, dass ich ihn von seiner Impotenz befreite. Er suchte eine Mutter für seinen behinderten Sohn und eine präsentable Ehefrau. Ich war hübsch, nicht dumm oder ordinär und er dachte, ich wäre ihm für sein Angebot ebenso dankbar wie er mir. Als er erkannte, dass ich niemals seine Frau werden würde, verließ er mich nicht, sondern half mir. Er vermittelte mir einflussreiche Freunde, übernahm meine Finanzen und kümmerte sich um die Immobilie Nummer 41. Durch seine Hilfe hatte ich genug Geld, um mich weiterzubilden, mir Ärzte, Kosmetikerinnen, Friseure und teure Kleidung leisten zu können. Schließlich begrenzte ich meine Gästezahl auf zwanzig, was aber dem Andrang keinen Abbruch tat, sondern ihn im Gegenteil noch verstärkte. Hendrik ermöglichte mir ein sorgenfreies Leben, ohne dass er mich von sich abhängig machte. Ich stehe in seiner Schuld und habe mich daher auch Lucs angenommen und werde ihn nach Hendriks Tod zu mir nehmen und für ihn nach Hendriks Wünschen sorgen.“
„Sie nehmen Luc zu sich? Einen behinderten Mann, der so alt ist wie ich? Nur weil Ihnen der Alte ein bisschen geholfen hat? Für ihn war das doch eine Kleinigkeit!“ Marcel fehlte das Verständnis für so viel Großherzigkeit und Edelmut.
„Sie verstehen wieder nicht. Hendrik hat meinem Leben eine Richtung gegeben, die Sie in rührseligen Filmen finden, aber nie im Leben bei einer Nutte mitten in Paris. Das ist allein Hendriks Güte und seiner Zuneigung zu mir zuzuschreiben. Das ist es, wofür ich heute noch dankbar bin.“
Louise hatte bei ihren letzten Worten ihre Hand zurückgezogen, Marcel verspürte nun an seinem Handrücken eine unangenehme Kühle.
„Naja, wie Sie meinen.“ Er schüttelte leicht den Kopf.
Louise stützte ihr Kinn in ihre Hände und blickte belustigt zu ihm auf:
„Sie müssen das alles ja auch nicht verstehen. Es spielt für mich keine Rolle, ob Sie mit meinen Entscheidungen oder Lebensweisheiten
Weitere Kostenlose Bücher