41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
sodass ich außer dem zerrissenen Kittel buchstäblich nichts mehr am Leib trug. Ich schleppte mich in das Bistro, das damals Victor gehörte, einem alten Kriegsinvaliden. Er gab mir Wasser zu trinken und ich durfte mich auf der Toilette waschen. Als ich fertig war, musste ich zu ihm hinter den Tresen kommen und ihm beim Onanieren behilflich sein, da seine Handgelenke vom Rheuma schon schwer gezeichnet und ziemlich unbeweglich waren. Er freute sich so sehr über meine Hilfsbereitschaft, dass er mich in einer kleinen Abstellkammer im Haus Nummer 41 wohnen, in seinem Bistro putzen und ihn selbst jederzeit befriedigen ließ. Ich erhielt für meine Arbeit zwar kein Geld, musste aber auch keine Miete bezahlen und bekam einmal täglich eine warme Mahlzeit im Bistro. Hin und wieder schickte er auch Gäste vom Bistro in meine Kammer, die gelegentlich kleine Geschenke mitbrachten. Haarspangen, Seife, Brot oder Schokolade; Dinge, die ich wirklich nicht dringend brauchte. So kam ich auf die Idee, meinen Körper gegen Geld einzusetzen. Es funktionierte. Die Männer waren bereit zu zahlen. Nicht viel, aber ich konnte mir manchmal neue Schuhe oder Wäsche kaufen. Natürlich wollte auch Victor einen Teil von meinen Einnahmen. Aber ich sagte ihm, dann müsste auch er für meine Arbeit mit ihm bezahlen. Da waren ihm ein paar Handgriffe von mir plötzlich lieber als das Geld.“
Louise zündete sich eine weitere Zigarette an und kostete nebenbei von ihrem Dessert. Sie erzählte ihre Geschichte wie eine Großmutter ihrem Enkelkind aus dem Märchenbuch vorlas.
„Die Rue Loubert war doch schon zu dieser Zeit damals ein heißes Pflaster mit Straßenstrich, oder? Hatten Sie keine Probleme mit den anderen Huren und Zuhältern? Futterneid? Konkurrenzkampf?“ Marcel war nun wirklich neugierig geworden.
„Sie haben ja keine Ahnung, welchen Aufruhr ich in der Rue Loubert verursacht habe. Ich getraute mich auch nicht, auf der Straße nach Kunden Ausschau zu halten, sondern putzte weiterhin bei Victor und empfing die Männer geheim in meiner Kammer. Eines Tages kam nachts ein Zuhälter, der sich als Freier ausgab. Er verprügelte mich und fügte mir als Drohung ein paar kleinere Schnitte im Gesicht zu, weil ich mich weigerte, für ihn zu arbeiten. Die Müllabfuhr fand ihn am nächsten Morgen im Hinterhof des Bistros, sitzend angelehnt an eine Mülltonne mit ausgestochenen Augen und einem verrosteten Messer mitten im Herzen.“
In demselben Tonfall hatte sie bei Emile das Menü geordert, Marcel von ihrer Töpferei erzählt und die Witwe gebeten, den Stand zu beaufsichtigen.
Marcel sah sie ungläubig an.
„Sie haben ihn erstochen und erzählen mir das hier und jetzt bei Wein und Schokoladenmousse?“
„Ich sagte nicht, dass ich ihn erstochen hätte und das würden Sie mir auch niemals beweisen können nach so langer Zeit. Aber letztendlich war er tot und in diesem Gossenmilieu hat ihm niemand nachgetrauert. Auch die Energie der Polizei bei der Suche nach seinem Mörder hielt sich in Grenzen. Es gab nur ein paar Befragungen und die Vermutung, dass er einen erbitterten Revierkampf verloren haben musste. Pro Forma wurden ein paar Nutten und Schläger festgenommen und wieder freigelassen. Keiner zeigte Interesse an einer weiteren Verfolgung des Falls. Seine Mädchen waren erleichtert, er hatte keine Mutter mehr, die um ihn trauerte, die anderen Zuhälter waren erfreut, weil sie unverhofft zu seinen Mädchen gekommen waren, die sie sich untereinander aufteilten. Es wuchs im wahrsten Sinne des Wortes Gras über ihn. Alle waren zufrieden. Ich auch, vor allem, weil ich nie mehr Besuch von einem Zuhälter erhielt. Auch die Anfeindungen der anderen Nutten ließen langsam nach und hörten irgendwann ganz auf.“ Louise konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen und leckte sich über die Lippen.
„So einfach war das also? Sie schaffen sich einen Typen vom Hals und schon kehrt Ruhe ein?!“ Marcel war aufgebracht, er konnte nicht glauben, mit welcher Unverfrorenheit sie ihm von dem zweifelsohne von ihr begangenen Mord erzählte und ihm dabei auch noch ganz offen ins Gesicht lachte.
„Regen Sie sich doch nicht so auf, mein Lieber! Ich habe ihn mir nicht vom Hals geschafft, er wurde ermordet, schon vergessen? Und nein, so einfach war es natürlich nicht! Es war ein täglicher Kampf gegen die Welt außerhalb des Bistros und meiner Kammer, den ich nur deshalb halbwegs unbeschadet überstehen konnte, weil ich zurückgezogen lebte. Ich
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