41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
zu zittern, sie runzelte nicht die Stirn, ihre Pupillen vergrößerten sich nicht, auch ihre Füße blieben ruhig unter dem Tisch.
„Aha. Und nun haben Sie sich für den direkten Angriff entschieden und hoffen darauf, dass ich angesichts Ihrer allwissenden Direktheit zusammenbreche, gestehe und von einer immensen seelischen Last befreit mit Ihnen in Ihrem Dienstwagen nach Paris fahre. Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“
„So ähnlich habe ich es mir vorgestellt, ja“, gab er bereitwillig zu.
Louise nickte zustimmend.
„Verstehe. Wäre auch praktisch, für alle Beteiligten die beste Lösung. Schnelle, unauffällige Klärung des Falls ohne Beteiligung honoriger Zeugen.“
Marcel zuckte wie nebenbei mit den Schultern, eine Geste, die sein kurzes „Warum nicht?“ noch unterstrich.
„Ja, natürlich, warum nicht?“, wiederholte Louise sachlich. Sie zerkrümelte gedankenverloren eine Scheibe Weißbrot zwischen ihren Fingern, strich die Brösel vom Tischtuch in ihre hohle Hand und ließ sie von da auf den Fußboden fallen. „Kaum jemand kennt mich als Mensch, meine Geschichte, meine Bedürfnisse, mein Leben neben meinen Freunden. Und das ist wichtig und soll auch so bleiben, alles andere wäre schlecht fürs Geschäft. Aber ich denke, ich sollte Ihnen ein wenig von mir erzählen, damit Sie verstehen, warum ich es nicht nötig habe, Sie oder irgendjemand anderes zu belügen.“
Marcel löste mit dem Löffel aus einer Muschelschale das orangefarbene Fleisch, kaute langsam und nahm einen Schluck vom gekühlten Weißwein.
„Sie können sich darauf verlassen, dass ich nichts von dem, was Sie mir anvertrauen, weitergebe. Außer es ist für die Ermittlungen unentbehrlich. Dann muss ich die Informationen öffentlich zugänglich machen.“
Louise sah ihn an, zögerte, als ob sie doch noch einen Rückzieher machen wollte, trank ebenfalls einen Schluck Wein, nahm eine Zigarette aus einem ledernen Etui und ließ sich von ihm Feuer geben. Der Rauch entwich langsam aus ihrem leicht geöffneten Mund und schwebte über ihren Köpfen.
„Ich bin als fünftes von wahrscheinlich vierzehn Kindern auf die Welt gekommen“, begann sie, „mein Vater war ein Säufer, meine Mutter eine Gebärmaschine und kostenlose Arbeitskraft auf dem verkommenen Bauernhof. Die meisten von uns durften nur zwei Jahre zur Schule, manche gar nicht. Das Geld reichte nicht und wir mussten alle zusammenhelfen, damit wir einmal im Monat unsere Lebensmittel oder Strickwaren am Hafen in Marseille verkaufen konnten. Mit sechzehn bin ich abgehauen, ein Lastwagenfahrer hat mich bis nach Paris mitgenommen. Für die Strecke brauchten wir damals beinahe drei Tage. In diesen drei Tagen und Nächten wurde mir klar, dass das Leben aus Geben und Nehmen besteht: Er gab mir seine kostbare Männlichkeit und nahm mir meine Würde.“
Marcel schwieg, aß gleichmütig weiter. Er war nicht schockiert oder beeindruckt, er konnte, wenn er wollte, sich die Szenerie ziemlich bildhaft vor Augen führen.
Louise hatte Vatermissbrauch, Schwangerschaft und die alte Hure unerwähnt lassen, man musste es mit der Ehrlichkeit ja auch nicht übertreiben.
„Ihre Eltern haben nicht nach Ihnen gesucht? Hat Sie niemand vermisst oder sich um Sie gesorgt?“
„Wie hätten Sie nach mir suchen sollen? Mit alten Karren? Ohne Telefon? Mit den Brüdern, die am Hof gebraucht wurden? Das Einzige, worum sie sich wahrscheinlich gesorgt haben, war die Tatsache, dass plötzlich ein Arbeitstier in der Herde fehlte. Ich habe jedenfalls nie mehr von ihnen gehört. Weder von den Eltern, noch von den Geschwistern.“
„Soll ich nach ihnen suchen? Möchten Sie etwas von Ihnen erfahren? Ich kann problemlos Nachforschungen anstellen.“
„Verschonen Sie mich, vielen Dank! Ich bin dankbar, dass mich nie jemand von ihnen aufgesucht hat. Mein jetziges Leben habe ich mir hart genug erarbeiten müssen. Da kann ich auf geldgierige Geschwister und Erbschleicher gut verzichten.“
„Wie Sie wollen. Das Angebot steht jederzeit.“
„Ja?“ Louise lächelte verschmitzt.
Marcel sah sie verständnislos an, wollte gerade fragen, was an seinem Angebot so komisch sei, als ihm die Zweideutigkeit seiner Aussage bewusst wurde. Er lachte laut auf.
„Sie sollten besser weiter erzählen. Sprechen ist nicht gerade meine Stärke, das überlasse ich lieber Ihnen.“
„Nun, als er mich in der Rue Loubert aus dem Wagen warf, war ich eine Schlampe. Er hatte mir auch meine paar Münzen und Kleider weggenommen,
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