41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
seinem Vater entgegen.
Der Alte
Hendrik van de Poort hatte wie jeden Donnerstag, seit sein Sohn das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatte, Louise um Punkt siebzehn Uhr am Tor angetroffen. Diesmal war sie besonders elegant zurecht gemacht und einen kurzen Augenblick lang freute er sich darüber, dass sie sich für seinen Sohn solche Mühe gegeben hatte. Doch sogleich erkannte er seinen Irrtum, ein Blick in ihr freundliches, doch distanziertes Gesicht gab ihm zu verstehen, dass ihre Eleganz keineswegs seinem Sohn, sondern vielmehr wohl einem späteren Gast galt. Schmerzlich musste er sich eingestehen, dass ihre Schönheit an seinem Jungen wohl verschwendet war und sie dies auch wusste. Dennoch liebte er sie dafür, dass sie ihre Dienste – wenn auch mehr als fürstlich entlohnt – Luc zuteilwerden ließ. Bis vor einigen Jahren hatte er noch selbst ihre Künste genießen dürfen, doch seit seinen Unterleib schwarze, sternförmige Gebilde in Besitz genommen hatten, verbrachte nur noch Luc die kostbaren Momente in ihrer Gesellschaft. Ihn selbst verband mit Louise eine mittlerweile jahrzehntelange Freundschaft, die, seit sie sich Lucs angenommen hatte, seinerseits geprägt war von tiefster Dankbarkeit. Louise hingegen wusste seine Sauberkeit, seine Diskretion, seine Verlässlichkeit und nicht zuletzt seine finanzielle Großzügigkeit zu schätzen.
So hatte sich aus der gegenseitigen Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse heraus im Laufe der Zeit eine für beide Seiten angenehme und unkomplizierte Geschäftsbeziehung entwickelt.
Hätte Louise sich damals nicht bereit erklärt, Lucs Triebe regelmäßig zu befriedigen und ihn so vor unbedachten sexuellen, möglicherweise sogar gefährlichen Handlungen bewahrt, hätte er eine andere der zahlreichen Damen engagieren müssen. Bei Louise hingegen wusste er aus eigener Erfahrung, auf welche Qualitäten er zählen konnte und darum war er erleichtert gewesen, als sie zustimmte, Luc in ihren Kundenkreis aufzunehmen und ihn mit besonderer Sorgfalt zu behandeln. Er hatte sie im Gegenzug in seinem Testament bedacht und als Pflegemutter für seinen Sohn eingesetzt. Mit seinen neunundsiebzig Jahren war schließlich damit zu rechnen, dass er vor ihnen allen starb und er wollte beide gut versorgt wissen.
Wie immer hatte er sich während der dreißig Minuten, in denen er seinen Sohn in ihren erfahrenen Händen wusste, in der kleinen Bar gegenüber einen erlesenen Cognac gegönnt, ein paar Worte mit dem mit ihm gemeinsam alt gewordenen Kellner gewechselt und mit sehnsüchtigen Gedanken das Fenster im ersten Stock des Hauses Nummer 41 im Auge behalten, von dem er wusste, dass sich dahinter sein Sohn befand. Als es schließlich an der Zeit war, erhob er sich langsam und mühevoll von seinem Tisch, um Luc wieder am Tor von Louise in Empfang zu nehmen.
Luc war wie immer: Rotgesichtig, vom Schokoladenbonbon verschmiert, fröhlich und mitteilsam. Louise allerdings hatte ihn entsetzt. Ihr unverhohlener Ekel, ihre Wut und ihre Unbeherrschtheit, mit der sie Luc in seine Richtung gestoßen hatte, offenbarten ihm Züge an ihr, die er noch nie gesehen hatte. Die ihm noch nie aufgefallen waren. Die schockierend waren. Nein, die beängstigend waren und sie hässlich machten.
Auf dem Heimweg versuchte er, in Lucs Mimik zu lesen. Aus seinem unverständlichen Kauderwelsch Hinweise darauf herauszuhören, was geschehen war. Aber er konnte nichts ausmachen. Sein Sohn sprach seit vierzig Jahren dieselbe Sprache, bewegte sich mit denselben verkrüppelten Beinen, sah mit denselben leeren Augen und lachte mit denselben Grimassen.
Zu Hause angekommen, kochte er eine leichte Mahlzeit für sie beide. Donnerstags hatten sämtliche Hausangestellte ihren freien Tag, er wollte diesen Tag für Luc stets so intim wie möglich gestalten. Danach setzte er seinen noch immer entrückt lächelnden Sohn vor den Fernseher, wählte einen Sender mit aktueller Popmusik, füllte Lucs bruchsichere Trinkflasche mit Bier, drückte ihm einen Sack Popcorn in die verkrampften Finger und zog sich mit einer Flasche Portwein in sein Büro zurück. Dort saß er lange im Finsteren und grübelte über Louises Verhalten nach. Wieder und wieder zerbrach er sich darüber den Kopf, was genau es war, das ihn so an ihrem Ausdruck erschreckt hatte. Erst als er in seinem Bett lag und, vom Alkohol sanft geschaukelt, in die Grauzone der ersten Schlafphase driftete, fiel es ihm ein. Es war der Hass in ihren Augen gewesen. Was er nur eine
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