41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
Kostüm mit weißer Bluse gewählt; geschlossener Kragen, dazu flache Pumps, kein Schmuck, dafür aber ein Spritzer Chanel Nr. 5 – der süßliche Duft alter, vornehmer Damen. Mit den hockgesteckten Haaren und ihrer randlosen Lesebrille sah sie eher aus wie eine Gouvernante eines katholischen Mädcheninternats als eine altgediente Domina.
Der Ermittlungsleiter wartete bereits am Tor, sie begrüßte ihn freundlich, er öffnete die Tür des Wagenfonds und war ihr beim Einsteigen behilflich. Im Vorbeifahren sah sie Martas entsetztes Gesicht an der Bar des Bistros und winkte ihr beruhigend lächelnd zu. Marta sollte nicht denken, sie wäre von der Polizei abgeführt worden. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Im Befragungszimmer des Reviers bot ihr der Ermittlungsleiter Kaffee an, den sie dankend annahm. Er drückte auf den grünen Knopf einer Sprechanlage, orderte ihren Kaffee und für sich selbst stilles Wasser und erkundigte sich, während sie auf seine Sekretärin mit den Getränken warteten, nach ihrem Befinden und ihren Sorgen mit der Heizungsanlage (ein Neffe von ihm, Techniker bei einer Heizungsfirma und vielleicht Kunde von Louise?, hatte ihm von einer defekten Leitung erzählt). Sie antwortete ausführlich und heiter, dankbar für die Ablenkung. Wenig später brachte die Sekretärin nicht nur das Tablett mit Kaffee und Wasser, sondern auch eine abgegriffene, rote Ledermappe, die sie auf den Tisch legte. Der Ermittlungsleiter schlug die Mappe auf und schob sie Louise über den Tisch hinweg zu.
„Madame, dies wären die Fotos. Bitte lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie jemanden erkennen, geben Sie mir bitte sofort Bescheid. Sie müssen sich aber unbedingt ganz sicher sein.“
Louise hatte verstanden, sie nickte nur und begann langsam und bedächtig, die Mappe durchzublättern.
Bei jedem Foto schüttelte sie beinahe bedauernd den Kopf und als sie ungefähr die Hälfte aller Bilder hinter sich hatte, wurde die Tür aufgestoßen und der Polizeipräsident platzte in den Raum.
„Oh, Verzeihung, ich wusste nicht, dass hier eine Befragung stattfindet. Madame, darf ich mich vorstellen: Präsident Pricard.“
„Sehr angenehm. Madame Prousseau. Louise Prousseau.“
„Ich wollte nicht stören, bitte machen Sie weiter.“
„Leider konnte ich Ihnen bis jetzt noch nicht helfen. Ich bin keinem dieser Männer jemals in meinem Leben begegnet.“
Der Ermittlungsleiter zog beinahe unmerklich eine Augenbraue in die Höhe, aber Louise war es nicht entgangen.
„Schade, Madame. Würden Sie bitte dennoch die Mappe bis zum Ende durchsehen?“
„Selbstverständlich.“ Louise blätterte weiter und bei Nummer 11 stockte sie.
„Madame?“
„Diesen Mann kenne ich. Ich bin mit ihm sozusagen befreundet. Aber ich habe ihn schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen.“
„Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen, Madame?“
Louise dachte angestrengt nach.
„Das war letztes Jahr im Winter. Anfang Dezember, vielleicht Ende November. Vor einem halben Jahr ungefähr. Seit wann wird er denn vermisst?“
Die Spannung im Raum verflog so schnell, wie sie gekommen war.
„Seit vier Wochen.“ Der Polizeipräsident musterte sie kurz.
Somit war Louises Aussage gegenstandslos. Die Zeitspanne von ihrem letzten Treffen bis zu seinem Verschwinden war einfach zu lange, um interessante Informationen zu beinhalten.
„Würden Sie sich bitte noch die anderen Herren ansehen?“ Im Tonfall des Ermittlungsleiters schwangen nun Ungeduld und Desinteresse mit.
„Ja, natürlich.“ Louise blätterte weiter, schloss die Mappe und stellte sachlich fest: „Es tut mir leid, Monsieurs. Ich erkenne außer Jean niemanden. Aber vielleicht haben Sie bei Marta oder Alette mehr Glück.“
„Ja, vielleicht“, murmelte der Präsident. „Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Sie werden selbstverständlich umgehend nach Hause zurückgebracht. Könnten Sie es arrangieren, dass Madame Marta und Madame Alette noch heute hierher kommen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“
„Aber selbstverständlich, Monsieur Pricard. Ich werde mich darum kümmern, sobald ich zurück in der Rue Loubert bin. Diese ganze Sache ist fürchterlich. Wir sind ja geradezu verpflichtet zu helfen, sofern wir es können.“
„Vielen Dank, Madame. Ich stehe in Ihrer Schuld.“ Der Präsident nahm ihre Hand, beugte sich darüber und deutete eine steife Verbeugung an. Sie war belustigt, aber auch ein wenig gerührt.
Das Gesicht des Ermittlungsleiters blieb verschlossen, fast schon
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