41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
gleiten. Beeindruckend war jedoch, dass der Neuling bestens auf seine Aufgabe vorbereitet war. Er hatte eine Route ausgearbeitet, bei der sie in kleinstem Radius die größtmögliche Anzahl an potenziellen Zeugen antreffen konnten: Menschen zwischen fünfzig und achtzig Jahren, die in Louises Kindertagen in der Nähe des Hafens gelebt oder sich zumindest die meiste Zeit dort aufgehalten hatten. Außerdem machte er seine schwindsüchtige Erscheinung durch Entschlossenheit und Ehrgeiz wett. Sie begannen ihre Befragungen direkt auf der Straße, zeigten älteren Menschen Fotos von einer ungefähr dreißig Jahre alten Louise, die Marcel im Polizeicomputer gefunden hatte. Niemand erkannte sie wieder, niemand kannte den Namen Louise Prousseau. Vereinzelt erinnerten sich einige wenige an eine Familie, die mit ihren Karren manchmal am Kai Käse oder Fleisch verkauft hatte. Wie der Name dieser Familie lautete, wusste niemand. Nur, dass sie von irgendwo vom Land kamen und schon seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr am Hafen gesehen worden waren. Marcel klapperte mit dem Jungen verruchte Bars, schlichte Restaurants, schmutzige Lebensmittelmärkte, alte Friseurläden und sogar Bruchbuden von Büros einiger Schiffsspeditionen ab, nur um immer wieder dieselben nichtssagenden Sätze zu hören.
Langsam war die Nacht hereingebrochen und Marcel vergatterte seinen jungen Assistenten zu einem Abstecher in eine Hafenkneipe, um bei einem ordentlichen Bier und Schnaps darüber zu beraten, wo Marcel für die Nacht unterkommen konnte. Sie waren auf den ersten Blick die einzigen Gäste in der Kneipe und stellten sich an den Bartresen. Der bärbeißige Wirt dahinter war mit seinem Zapfhahn wahrscheinlich schon seit Urzeiten verschmolzen und auch er konnte den Fragen nach Louise nicht entgehen. An einem zugigen Tisch neben der Eingangstüre saß eine greise Frau in einem verrosteten Rollstuhl und schlürfte durch einen Strohhalm ihr Bier. Ihre von Dreck verkrusteten Hände zitterten so sehr, dass sie das Glas nicht halten konnte, hinter ihren eingefallenen Lippen verbarg sich ein zahnloser Mund. Trotz der Hitze trug sie mehrere Schichten zerschlissener Kleidung, ein buntes Tuch war wie ein Turban schief um ihren Kopf gewickelt. Darunter lugten weiße Haarbüschel wie weiche Daunenfedern hervor. Sie murmelte leise vor sich hin, unablässig über den Strohhalm gebeugt, Bier rann aus ihren Mundwinkeln und tropfte entweder auf den Tisch oder in das Glas zurück. Ein strenger Geruch ging von ihr aus, der trotz der abgestandenen Kneipenluft bis zu den beiden Polizisten an die Theke durchdrang. Marcel hatte plötzlich genug. Genug von dieser trostlosen Umgebung, genug von sinnlosen Fragen und noch sinnloseren Antworten, genug von seinen eigenen erfolglosen Recherchen. Er kam einfach nicht weiter, jede Spur verlief so schnell im Sand, wie sie sich in seine Überlegungen eingeschlichen hatte. Er warf unvermittelt einen Geldschein auf die Theke, befahl „Wir gehen!“ und stürmte aus dem Lokal. Der Junge folgte ihm entgeistert. Er wollte gerade nach der Türklinke greifen, da packte ihn die Alte blitzschnell an seinem Jackenärmel.
„Jüngelchen, komm morgen wieder. Allein. Bring Geld mit. Ich weiß alles“, keuchte sie mit rasselndem Atem.
Zutiefst erschrocken riss er sich los, trat durch die Tür auf die Straße und hoffte, dass Marcel den Zwischenfall nicht bemerkt hatte. Ein blitzschneller Gedanke hatte trotz des Schreckens von ihm Besitz ergriffen: Er würde den Fall lösen, als Held in den Schlagzeilen gefeiert werden und nicht länger als hilfloses Baby unter den Kollegen am Revier gelten, das man ununterbrochen beaufsichtigen musste.
Er wollte morgen wieder kommen. Allein. Mit Geld.
Louise, Marta, Alette
Alette hatte dieselbe Idee wie Louise gehabt und saß bereits bei einem kühlen Glas Chardonnay im klimatisierten Inneren des Bistros, als Louise eintraf. Das zerschundene runde Tischchen in einer ruhigen Ecke in der Nähe der derben Holztheke war über all die Jahre zu ihrem angestammten Plätzchen für gemütliche Plauderstunden geworden. Sie vermieden bei ihren Gesprächen tunlichst die Erwähnung von Namen ihrer Freunde und hatten eine eigene bildhafte Sprache entwickelt, in der sie sich problemlos verständigen konnten, ohne dass andere Gäste auch nur geringste Zusammenhänge von Inhalt oder Sinn ihrer Tratschereien ahnen konnten. Louise sah Marta noch in der blitzsauberen Küche hinter dem Tresen geschäftig hantieren.
„Sie
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