42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
zehn Schritte hin.“
Der Fremde eilte in der angegebenen Richtung fort, öffnete das Pförtchen und trat in den Garten. Er ging mit schnellen Schritten gerade auf den glasgedeckten Anbau zu, welchen der Knabe den Wintergarten genannt hatte. Die Außentür zu demselben war nicht verschlossen. Er öffnete und trat ein.
Zwischen einer Gruppe von hohen Blattpflanzen, Palmen und immergrünen Exoten, zwischen denen reife Wintertrauben und Limonien glänzten, saßen zwei Frauen, die man sofort als Mutter und Tochter erkannte! Sie waren beschäftigt, ein Bukett zu binden, und bildeten während dieser Arbeit und bei dieser Umgebung eine allerliebste Gruppe, auf welcher selbst das Auge eines Fremden mit Wohlgefallen hätte ruhen müssen. Sie waren beide von feiner, schmächtiger Gestalt, und ihr ganzes Äußeres machte sofort den Eindruck, daß man es bei ihnen mit Damen von feinster Geistes- und Gemütsbildung zu tun habe. Sie hörten die Tür gehen und blickten auf. Beim Anblick der hohen, stolzen Gestalt des Fremden erhoben sie sich, und Frau Sternau fragte, einen Schritt vortretend:
„Mein Herr, Sie suchen –“
„Mutter!“
Mit diesem einen jubelnden Wort unterbrach sie der Fremde, und schon stand er bei ihr, schloß sie in die Arme und küßte sie herzlich auf den Mund. Sie erbleichte vor freudigem Schreck, hing einige Augenblicke wie kraftlos in seinen Armen, ermannte sich jedoch schnell und rief:
„Karl! Ist's wahr? Mein Sohn! Oh, welche Überraschung!“
Er drückte sie mit der Rechten an sein Herz, streckte die Linke nach der Schwester aus und bat:
„Helene, Schwester, komm herbei!“
„Mein Bruder!“ frohlockte das Mädchen mit freudeglänzendem Angesicht. „Wir sprachen soeben von dir. Welche Freude, welch ein Glück! Wir glaubten dich ja weit weg in Spanien!“
„Ja, ich habe euch nicht geschrieben; ich wollte euch überraschen; es sollte das ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk werden.“
„Und das ist dir vollständig gelungen, mein lieber, lieber Sohn“, sagte die Mutter.
Sie schmiegten sich innig an ihn und küßten ihn von beiden Seiten auf Lippen und Wangen. Sie bildeten mit ihm eine reizende, glückstrahlende Gruppe; er, der starke, hohe Mann, und sie, die schmächtigen Gestalten, denen man es nicht angesehen hätte, daß sie Mutter und Schwester von ihm seien.
Unterdessen war Kurt mit seinem Fuchs weitergegangen und durch das Tor in den Schloßhof getreten. Dort stand der Knecht, der die Ökonomie des Oberförsters führte.
„Ah, habt ihr ihn?“ fragte er den Knaben, als er den Fuchs erblickte.
„Nein, ich habe ihn!“ lautete die stolze, selbstbewußte Antwort.
„Du? Ja, das sehe ich! Wer hat ihn geschossen?“
„Die Großmagd!“ antwortete Kurt, indem er mit der Miene eines ganz und gar beleidigten Don oder Lords nach dem Eingang des Schlosses schritt.
Er stieg in dem Bewußtsein, den Knecht nach Recht und Verdienst angedonnert und abgeblitzt zu haben, die Treppe empor und klopfte an die Tür des Oberförsters.
„Herein!“ knurrte es grimmig von innen.
Der Herr Hauptmann befand sich noch ganz in der Stimmung, in welcher ihn der großherzoglich-hessische Polizeikommissar verlassen hatte. Kurt trat ein, salutierte militärisch und sagte:
„Da ist der Kerl, Herr Hauptmann!“
Sofort klärte sich das Gesicht des Oberförsters auf. Er erhob sich, trat näher und rief:
„Ah, ein alter Kerl! Ein ganz alter, erfahrener Kerl! Er wird den Burschen zu schaffen gemacht haben.“
„Ja, den Burschen!“ nickte Kurt lachend.
„Das sagst du in einem solchen Ton! Was ist es?“
„Den Burschen hat er zu schaffen gemacht, aber mir nicht.“
„Dir nicht! Alle Teufel! Kerlchen, ich denke doch, daß er schwer ist!“
„Oh, Herr Hauptmann, er war leicht zu tragen und auch leicht zu schießen.“
„So hast du ihn vom Wald hereingeschleppt, Kleiner?“
„Ja.“
„Da soll doch der Teufel diese Faulenzer reiten! Hängen sie dem Jungen eine solche Last auf und trotten faul daneben her!“ zürnte Rodenstein. „Ich werde ihnen einen Marsch blasen, daß ihnen Hören und Sehen vergehen soll!“
Da trat Kurt einen Schritt vor und sagte:
„Nein, Herr Hauptmann, du wirst ihnen keinen Marsch blasen!“
„Nicht? Ah! Wer will mir das wehren, Patron?“
„Ich!“
„Du! Ja, du wärst mir das Kerlchen dazu! Wie willst du das denn eigentlich anfangen?“
„Ich habe sie ja gezwungen, mich den Fuchs tragen zu lassen!“
„Gezwungen? Ja, das ist auch etwas Rechtes, sich
Weitere Kostenlose Bücher