43 Gründe, warum es AUS ist
lang hatte ich das seltsame Gefühl, wegen Joans Bemerkung gleich weinen zu müssen, und ich habe heftig mit meinem Wimpel gewedelt, damit die Feuchtigkeit in meinen Augen verdunstete. »Aber wenn du es schaffst«, warnte sie mich, »oder auch wenn nicht – sieh zu, dass er nicht erst weit nach Mitternacht heimkommt.«
»Du bist nicht meine richtige Mutter.« Erst fand ich das mutig von mir, dann dumm. Der Witz war völlig daneben. Das war ein Witz zwischen dir und Joan, ganz allein eurer. Sie hat die Stirn gerunzelt und starr auf die Pompons geguckt. Totenstille, auch wenn alle um uns herum sich die Seele aus dem Leib schrien.
»Lecker«, sagte ich und meinte die Kekse. Das war mein Codewort für Entschuldigung .
»Ja, nicht wahr?«, sagte sie und tätschelte mir die Hand für Ich verzeih dir, aber der Witz war definitiv daneben gewesen. »Iss trotzdem nicht alle auf einmal auf.«
Nie zuvor hatte ich so ein Gebrüll und Gedröhne gehört, nicht einmal bei meiner ersten Mobilisierungsparty, zu der ich auch nur ging, weil ich in meinem Freshman-Jahr anfangs die falschen Freunde hatte und nicht durchblickte. Die ganze Sporthalle tobte, die Leute jubelten und winkten und hielten sich an ihren Freunden fest, bei jedem Treffer schrillte eine Glocke, die sofort von Entzückens- oder Entsetzensschreien übertönt wurden, je nachdem, auf welcher Seite man stand. Pfiffe, Zeitschinden der verschwitzten Spieler, wütende Blicke, Achselzucken, wildes Gefuchtel mit den Armen und verhaltenes Kack! bei einem Penalty oder Fehler. Die Spieler, die mit hochgereckten Armen übers Feld rannten, Handflächen nach vorn, der Ball ist meiner, der Korb, der Punkt, der Spielstand, das Team, das Spiel, ich hab dich im Gewühl verloren, wiedergefunden, kurz aus den Augen gelassen, um nach der Anzeigetafel zu schauen. Es war eine Wahnsinnsstimmung, Ed, und ich fand es wirklich toll, das Trampeln auf der Tribüne, zusammen mit den anderen, damit es so richtig donnerte – bis mein Blick auf die Uhr fiel und ich sah, dass gerade mal mickrige fünfzehn Minuten gespielt waren. Ich hatte geglaubt, es sei bald fertig, doch auf einmal schrumpfte ich zusammen wie ein Luftballon, und der Wimpel fühlte sich plötzlich an wie eine viel zu schwere Hantel. Eine Viertelstunde erst, wie war das möglich? Ich zwinkerte, bevor ich noch einmal nach der Uhr sah, um zu sehen, ob ich mich nicht getäuscht hatte, und Joan bekam es mit und grinste. »Ich weiß«, sagte sie, »so ein Spiel dauert wirklich ewig, hab ich recht? Das perfekte Synonym für beeilt euch oder für warten .« Inzwischen hatte ich dich aus den Augen verloren, und es dauerte so lange, bis ich dich wiederfand, dass mein Gehirn sagte: Wieso guckst du diesem Typ überhaupt zu? Wer ist das überhaupt? Warum der und nicht irgendein anderer?, denn irgendwas stimmte nicht an diesem Bild, in dem ich saß. Wie ein Apfel, der für den Kongress kandidiert, wie ein Fahrrad im Badeanzug. Wie mit Ausschneiden und Einfügen in einen Hintergrund montiert, von dem man auf Anhieb – oder, na ja, nach fünfzehn Minuten – sah, dass er nicht passte, so fühlte ich mich. Wie Anthony Burn als Stonewall Jackson in Mit mir nicht! oder wie Deanie Francis in Die Mitternacht naht – nicht die Richtigen für die Rolle, schlecht gecastet. Mein Rucksack fiel mir ein, der heute besonders schwer an meinen Beinen lehnte – mit den Hausaufgaben und vor allem dem Buch von Robert Colson, das ich Al geliehen und das er mir endlich zurückgegeben hatte – würde ich den zu der lauten nächtlichen Feier mitschleppen müssen, die ganz offensichtlich vor uns lag, nachdem der Spielstand so überwältigend gekippt war? Was sollte ich mit dem Wimpel machen und dem Plastikstäbchen, an dem man ihn hielt, wirft man den ins Feuer, wieso hatten die Leute später bei den Partys nie ihren Wimpel dabei? Was tat ich hier in der Sporthalle, da stimmte doch was nicht, das war doch kein Ort, an den ich je freiwillig gekommen wäre. Nicht mal Kaffee verkauften sie hier, dabei brauchte ich so dringend einen, o Mann, drauf und dran war ich, über die erschöpfte Mutter vor mir herzufallen und ihr die Thermoskanne aus der Hand zu reißen. Aber ich kam hier nicht raus, die Fenster waren zu hoch oben und nicht einmal offen, der Boden vor meinen Füßen war voller Krümel und Walnüsse, Christians Bruder lehnte unabsichtlich an meiner Schulter, Joan unterhielt sich lachend mit irgendeiner Mutter, die neben ihr stand. Man geht nicht; man bleibt.
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